Kapitel 17 - Verlust

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Für gewöhnlich war Herr Wagens schon von mir im Büro, doch als ich heute Morgen angekommen war, war seine Tür noch verschlossen gewesen.

Hatte das etwas mit mir zu tun?

Ich versuchte mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, doch innerlich dachte ich nur an den Moment, indem er durch die Tür kommen würde und wir uns verstohlene Blicke zuwerfen würden.

Die Tür schwang auf, ohne dass ich ihn hatte kommen sehen.

"Guten Morgen!", begrüßte er mich fast schon fröhlich. "Hatten Sie ein schönes Wochenende?"

Irritiert sah ich an. Mein Wochenende war geprägt von Herzrhythmusstörungen, weil es bei jeder neuen Benachrichtigung auf meinen Handy ausgesetzt hatte, da ich eine Nachricht von ihm erwartet hatte.

"Ähm, was okay", stotterte ich verwirrt.

"Ich hoffe, Sie konnten sich von Ihrem Fahrstuhlschock erholen."

Was sollte das? War das seine Strategie mit der Situation umzugehen? Einfach so zu tun, als hätte es all das zwischen uns nicht gegeben. Das war zwar irgendwie auch mein Vorschlag gewesen, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass er es wirklich zu 100% umsetzen würde.

"Ja, ist schon fast wieder vergessen. Wie war ihr Wochenende?"

Ich wusste, dass dies eine sehr persönliche Frage an den Chef war, doch ich würde sehr gern seine Perspektive hören.

"Ach, furchtbar", sagte er und seufzte. Hellhörig wartete ich seine Antwort ab. "Man hat mir am Samstag meine Tasche geklaut. Inklusive Handy und Portemonnaie. Im Prinzip war ich die ganze Zeit damit beschäftigt Karten und Accounts sperren zu lassen und neue zu beantragen." Er verdrehte genervt die Augen. "Sein Portemonnaie zu verlieren, ist wirklich ein Horror."

Mein Kinnlade fiel nach unten. Sein Handy war geklaut worden?

Ich realisiert, dass er die Nachricht offenbar nie gelesen hatte. Er tappte noch immer im Dunkeln.

OH. MEIN. GOTT!!

"Das tut mir unglaublich leid", versuchte ich mich zusammenzureißen und mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. "Ich hoffe, dass Ihnen daraus kein großer Schaden entstanden ist."

Er schüttelte den Kopf.

"Nein, kein finanzieller, aber ich habe jetzt natürlich eine riesige Rennerei, weil alles neu beantragt werden muss: Perso, Krankenkarte, Bankkarten... Na ja, Sie können es sich ja vorstellen. Mir wurde eher Zeit geraubt als Geld."

Mitfühlend nickte ich und ich musste mir eingestehen, dass ich froh darüber war, dass er die Nachricht nicht gelesen hatte.

"Wissen Sie denn, wer es geklaut hat?"

"Nein, ich war am Abend noch mit Freunden in einer Bar. Die Tasche stand direkt neben mir. Man würde meinen, dass ein Polizist bemerkt, wenn jemand versucht ihn zu beklauen, doch ich kann mir wirklich nicht erklären, wie er oder sie es angestellt hat." Er zuckte mit den Achseln. "Aber es ist nun mal wie es ist. Es bringt nichts mehr sich darüber zu ärgern."

Er lächelte tapfer. Kleine Grübchen bildeten sich dabei auf seinen Wangen und ließen mein nun wieder aufblühendes Herz dahinschmelzen.

"Ich plane für Freitagabend übrigens eine kleine Einstandsfeier mit den Kollegen hier bei uns im Innenhof. Ich dachte, dass es vielleicht ganz nett wäre, wenn wir grillen. Wären Sie so nett und schicken an alle Kollegen eine Mail, dass diese herzlich eingeladen sind?"

"Natürlich", sagte ich sofort. "Ich kümmere mich auch um alles Organisatorische. Die Feier muss angemeldet werden, wenn sie auf dem Dienstgelände stattfindet und einen Grill haben wir sogar noch im Lager. Ebenso Bierbänke. Den kann ich ebenfalls reservieren. Wenn Sie wollen, kann ich auch Getränke bestellen."

Sein Lächeln wurde breiter.

"Sie machen Ihren Job wirklich gut! Ich bin sehr froh, Sie als Unterstützung zu haben. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie die Bestellung vorbereitet haben, damit ich dann meine Bankdaten eintragen kann."

"Gern. Sonst noch etwas?"

Er schien kurz zu überlegen.

"Nein, ich denke, das war erst einmal alles. Danke!"
Dann verschwand er in seinem Büro und ließ mich mit meinem Hormonchaos zurück. Er war einfach zu perfekt. Keine Frau würde diesem Menschen widerstehen können. Ich wollte mehr als nur seine Sekretärin sein. Ich wusste, dass das fernab jeder Realität war, doch ich konnte das Verlangen danach nicht kontrollieren.

"Na, warum schaust du denn so verträumt?", fragte mich Constance, als sie den Raum betrat.

Ertappt blickte ich auf.

"Ach, ich bin nur müde. Es war ein anstrengendes Wochenende."

Tatsächlich hatte ich kaum geschlafen, weil ich jede Sekunde mit einer Nachricht von Herr Wagens rechnen musste.

"Du siehst aber nicht müde aus, sondern eher so, als hättest du dich gerade in deinen Phantasiewelten verloren." Sie zog eine Augenbraue hoch. "Lass mich raten: Du stehst auf Herrn Wagens?"

Sofort erröteten meine Wange und verrieten mich.

"Quatsch", versuchte ich es trotzdem abzutun.

Doch Constance lachte nur.

"Du bist so schlecht im Lügen. Außerdem kann es dir wirklich keiner übel nehmen. Welche Frau wird von ihm nicht in seinen Bann gezogen?"

Ich antwortete nicht darauf. Was zwischen mir und Herr Wagens war, sollte auf keinen Fall jemand von der Wache wissen. Ich wollte nicht zum Gespött der Kollegen werden.

"Du musst dich nicht dafür schämen, dass du auf ihn stehst", sagte sie lauter, als mir lieb war.
"SCH!", ermahnte ich sie. Schließlich saß Herr Wagens im Nebenzimmer und ich vertraute der Dämmung der Büroräume nur bedingt.

"Ist doch nicht schlimm. Ich denke, er weiß, dass ihm die Frauenherzen nur so zufliegen. Vielleicht bist du ja sogar sein Typ! Du bist süß, hast große Brüste und ein nettes Lächeln. Mit dieser Kombi bist du doch ganz gut aufgestellt."

Wenn es nur so einfach wäre.

"Können wir bitte einfach das Thema wechseln?"

Wilma war meine Freundin, mit der ich über mein Leben sprach, aber nicht Constance. Ihre Sicht auf die Dinge war einfach zu verschieden.

"Okay, ich wollte eigentlich nur fragen, ob ich nächste Woche noch bei der Brandschutzübung mitmachen kann."

Ich sah auf die Liste.

"Ja, es sind noch ausreichend Plätze frei. Ich setze dich mit drauf."

"Okay, danke!" Sie hielt kurz inne und sah mich musternd an. "Wenn ich so darüber nachdenke, wärt ihr wirklich ein süßes Paar."

Ich rollte mit den Augen.

"Ja, ist klar..."

Sie zuckte mit den Schulter und verließ dann den Raum.

Hatte sie es ernst gemeint? Fand sie wirklich, dass Herr Wagens und ich gut zusammenpassten? In meiner Augen waren wir eher der Schöne und die graue Maus. Er hatte diese selbstverständliche Eleganz, die ich nie haben würde. Er war souverän und gelassen, während ich bei den kleinsten Dramen einen Nervenzusammenbruch bekam. Ich beneidete ihn sehr für diese Eigenschaften. Doch gleichzeitig schien er mir dadurch unerreichbar. 

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt