Kapitel 29 - Du hast ja keine Ahnung

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Ich stellte mich an das Fenster, von dem man sein Badezimmer sehen konnte und winkte ihn zu mir heran.

"Sehen Sie! Das ist Ihr Badezimmer", setzte ich an. "Jeden Tage höre ich sie singen. Seit Sie eingezogen sind, war das mein Highlight des Tages." Nun suchte ich den Blickkontakt. In seinem Gesicht breitete sich Verwirrung aus. "Deshalb habe ich Ihnen den Brief vor die Tür gelegt. Ich bin die Unbekannte, mit der Sie schon seit Monaten schreiben."

Jetzt war es raus und es gab kein Zurück mehr. Vielleicht hatte ich erst eine Extremsituation gebraucht, um endlich den Mut zu fassen, ihm die Wahrheit zu erzählen.

Sein überraschter Gesichtsausdruck war echt. Die Kinnlade hatte sich in Richtung Boden verabschiedet und die Augen waren weit aufgerissen. Sein gesamter Körper war in eine Schockstarre übergegangen.

"Sie?", kam es über seine Lippen. "Sie sind das?"

Ich nickte und auf einmal fühlte es sich gar nicht mehr so schlimm an, es ihm zu sagen. Eventuell lag es daran, dass die Schmerzmittel begannen ihre Wirkung zu entfalten.

"Ich wusste zu Beginn nicht, dass Sie es waren", erklärte ich mich. "Erst als Sie mir auf Arbeit versehentlich den Brief in die Hand gedrückt hatten, wusste ich es. Ich wollte es Ihnen oft sagen, aber ich habe mich nicht getraut. Zudem kam immer irgendetwas dazwischen."

Er schlug sich die flache Hand vor die Stirn.

"Sie waren bei unserem Treffen", sprach er aufgeregt. "Sie waren da! Und ich dachte, es wäre Zufall."

"Ja, ich wollte es Ihnen an dem Tag sagen, doch Ihre Reaktion hat mich verunsichert. Ich dachte, dass es Dinge zwischen uns komplizierter machen könnte. Schließlich arbeiten wir zusammen. Doch dann war da dieser Kuss." Ich verstummte kurz, denn eigentlich hatten wir abgemacht, dass wir diesen nie wieder erwähnen würden. Doch wie könnte ich diesen Kuss jemals vergessen oder ignorieren? "Und dann war es sowieso komisch zwischen uns. Also wollte ich mich mit Ihnen treffen und alles erklären, doch dann ist das mit Ihrem Vater geschehen und es kam wieder nicht dazu. Es war wie verhext."

Es sprudelte nur so aus mir heraus und erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich es gebraucht hatte, endlich die Wahrheit aussprechen zu können. Seit Monaten hatten diese Worte in mir geschlummert.

Ich sah die Überforderung in seinem Gesicht. In seinem Kopf schienen sich nach und nach die Teile zusammenzufügen.

Er fuhr sich ein wenig verzweifelt durch seine wuscheligen Haare und atmete schwer aus.

"Sie sind das also", sprach er langsam und nachdenklich. "Es gab so viele Anzeichen, doch es ist mir nie in den Sinn gekommen."

"Das habe ich gemerkt", flüsterte ich und wusste nicht einmal, warum ich meine Stimme senkte. Vielleicht war es die Angst vor seiner Reaktion, denn bis jetzt hatte er mir nicht gezeigt, wie er darüber dachte. Wahrscheinlich wusste er es selbst noch nicht.

Er biss sich auf seine Unterlippe und schien nach Worten zu suchen, doch es kam kein Ton aus seiner Kehle. "Für einen Polizist haben Sie wirklich lange auf dem Schlauch gestanden", versuchte ich zu scherzen, um die Stimmung ein wenig aufzulockern.

Doch er schien viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt zu sein. Er runzelte die Stirn und biss sich auf die Unterlippe.

"Es ist okay", sagte ich sanft.. "Wir haben uns da beide in etwas verrannt. Das passiert. Wir sollten da nicht zu viel hineininterpretieren und einfach ein professionelles Verhältnis auf Arbeit beibehalten."

Sein Blick schnellte in meine Richtung und er begann seinen Kopf zu schütteln. Das waren offensichtlich nicht die richtigen Worte gewesen.

"Ich glaube, Sie haben-." Er brach ab. "Wollen wir vielleicht lieber DU sagen?" Das war eh längst überfällig. Also nickte ich. "Ich glaube, DU hast meine Reaktion falsch interpretiert." Die Tatsache, dass er mich plötzlich duzte, ließ mein Herz dahinschmelzen. Sofort war er mir viel vertrauter. "Der Kuss damals hat mir etwas bedeutet. Ich habe dir gesagt, dass wir ihn besser vergessen, weil so etwas zwischen dem Chef und seiner Sekretärin nicht vorkommen sollte. Ich bin neu und wollte nicht den Ruf haben, dass ich mir sofort die Sekretärinnen kralle. Verstehst du? Doch ich habe das sehr schnell bereut. Spätestens seit dieser Nacht habe ich jeden Tag an dich gedacht. Auch als ich bei meiner Mutter war. Ich habe dich vermisst. Genauso, wie die Unbekannte, die ich durch einen Brief vor meiner Tür kennengelernt habe. Hätte ich gewusst, dass das ein und dieselbe Person ist..." Er machte eine kurze Pause. "Es hätte vieles geändert. Du kannst dir nicht vorstellen in was für einem Gefühlschaos ich war. Denn ich fand dich vom ersten Tag wirklich hinreißend, doch dann war da diese Unbekannte, mit der ich Briefe geschrieben habe. Ich war zwischen zwei Frauen hin und hergerissen, die letztendlich doch nur eine ist. Hätte ich das gewusst.... "

Er hielt inne und schüttelte noch immer ungläubig den Kopf.

"Was genau meinen Sie... ähm du?"

Er zögerte und sah mich dann lächelnd an.

"Du hast wirklich keine Ahnung, wie bezaubernd du bist, oder?"

Bezaubernd? Hatte er gerade wirklich dieses Wort in Bezug auf mich verwendet? Ich zuckte mit den Schultern.

Dann lehnte er sich vor, strich mir ganz zart über meine Wange und küsste mich. Es kam so unerwartet, sodass ich im ersten Moment zurückschreckte. Doch nur einen Bruchteil einer Sekunde später, lehnte ich mich wieder nach vorne und legte meine Lippen auf seine. Ich sah, wie er die Augen schloss, also tat ich es auch.

Seine noch freie Hand platziert er auf meiner Hüfte.

Ich wünschte der Moment würde ewig andauern. Ich wollte in seinen Armen versinken. Obwohl heute so viel Schreckliches geschehen war, fühlte ich mich plötzlich gut und lebendig.

Erik roch wunderbar. Ich kannte das Parfum nicht, doch ich verband diesen Geruch ausschließlich mit ihm und ich liebte es. Seinen Haaren, die mittlerweile jeglichen Halt verloren hatten, sah man die Dramatik des Tages an.

Schließlich löste er sich von mir.

Wir sahen uns an und in seinem Blick lag so viel Vertrautheit und Zuneigung. Es fühlte sich plötzlich so an, als würde ich ihn schon ewig kennen. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass er mich auf diese Art und Weise ansehen könnte.

Sämtlich Anspannung war plötzlich verflogen. Ihn so dicht vor mir zu haben, war auf einmal ganz natürlich. Als würde er für immer an meine Seite gehören.

"Du glaubst gar nicht, wie lange ich auf diesen Moment schon warte", flüsterte ich und musste schmunzeln.

Er legte seine Hand sanft auf meine Schulter und ließ die Finger dann zu meinem Gesicht wandern. Es war so unwirklich von ihm auf diese Art und Weise berührt zu werden. Ich hatte aufeinmal einen ganz anderen Mann vor mir. Einer, der in mir eine Frau sah und nicht nur seine Angestellte.

"Geht es dir schon ein bisschen besser?"

Ich hatte fast vergessen, was heute alles schon geschehen war.

"Es könnte mir nicht besser gehen", sagte ich vermutlich ein wenig zu euphorisch.

"Angesichts der Tatsache, dass heute jemand versucht hat, dich umzubringen, gibt mir diese Aussage ein wenig zu denken", sagte er nur teilweise im Scherz. "Du solltest dich wirklich ausruhen."

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt