Kapitel 18 - Romantiker durch und durch

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Als ich mit dem Fahrrad in meine Straße einbog, war etwas anders als sonst. An jedem einzelnen Laternenmast, klebte ein A4 Blatt mit der Überschrift "Liebe Unbekannte".

Ich trat abrupt in meine Bremse. Fast zu schnell, denn beinahe hätte es mich über den Lenker gehoben.

Ich starrte eines der Blätter an.

"Liebe Unbekannte, ich habe leider mein Handy und somit auch deine Nummer verloren. Da ich unter meiner alten Nummer momentan ebenfalls nicht erreichbar bin, würde ich dich bitten mich wie früher zu kontaktieren. Du weißt schon ;) Schreib mir gern deine Nummer in den Brief! Ich freue mich von dir zu hören."

In meinem Herz breitete sich die Wärme einer aufgehenden Sonne aus. Er suchte nach mir. Ich musste ihn wirklich mehr bedeuten, als ich annahm. In dieser Straßen hingen bestimmt 50 Zettel. Er hatte wirklich sichergehen wollen, dass ich sie nicht übersehe. Ich biss mir auf die Unterlippe, weil ich mit so viel Aufmerksamkeit und Zuneigung nicht umgehen konnte.

Er war ein Romantiker. Er war all das, was ich immer von einem Mann erwartet hatte.

Erik Wagens, du bist einfach perfekt.

Ich kramte aus meiner Tasche ein Stück Papier und schrieb meine Nummer darauf.

Ich ergänzte noch den Satz "Bitte nicht noch einmal verlieren ;)" und legte den Zettel hinter den Zitronenbaum.

Dann ging ich zu meinem Fahrrad zurück, um es anzuschließen.

Ich konnte es einfach nicht glauben. Er betrieb all diesen Aufwand für mich. Noch nie zuvor hatte ich jemanden in meinem Leben gehabt, der wo etwas für mich machen würde.

"Frau Maguschka?", hörte ich eine viel zu bekannte Stimme.

Ich wirbelte herum und starrte ihn erschrocken an.

Hatte er gesehen, dass ich den Brief dort abgelegt hatte?

"Hallo", brachte ich mit belegter Stimme hervor.
"Was machen Sie denn hier?", fragte er und behielt ein Pokerface. Ich konnte nicht sagen, ob er mich gesehen hatte oder nicht.

"Ich wohne hier", sagte ich und zeigte auf den 60er-Jahre-Bau, in dem meine Wohnung war.

"Tatsächlich?", fragte er überrascht. "Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Ich wohne gleich nebenan."

Er zeigte auf den modernen Neubau.

"Ach, das ist ja witzig", versuchte ich überrascht zu klingen und schluckte meine Panik mit dem Kloß im Hals hinunter. Offenbar hatte er nicht gesehen, wie ich den Brief unter dem Zitronenbaum abgelegt hatte.. "Ich habe Sie auch noch nie gesehen". Was der Wahrheit entsprach. Bis jetzt hatte ich ihn hier nur gehört.

"Falls es noch einmal regnen sollte, kann ich sie gern beim nächsten Mal mit dem Auto mitnehmen", bot er an.

Mein gesamter Körper kribbelte aufgrund seiner Anwesenheit.

"Ich kann Ihnen gerne meine neue Nummer geben. Dann können Sie mir morgens einfach schreiben, falls ich Sie mitnehmen soll."

Warum musste er so verdammt nett sein? Gleichzeitig wusste ich, dass ich ihn nie morgens schreiben könnte, denn er würde mich vermutlich in seinem Handy als "Unbekannte Nachbarin" oder ähnliches eingespeichert haben.

"Das wäre sehr nett. Vielen Dank!"

"Kein Problem. Das macht ja wirklich keine Umstände."

Er kritzelte seine Nummer auf eine Visitenkarten. Beim genauen Hinsehen sah ich, dass es seine eigene war.

"Bitteschön!"

Er reichte mir die Karte. Dann hielt er kurz inne und ich wusste, dass ihm noch etwas auf der Zunge lag.

"Ja?", fragte ich. "Ich sehe doch, dass Sie noch etwas fragen wollen."

Ertappt schmunzelte er mich an. Er sah dabei sofort 10 Jahre jünger aus.

"Das ist eventuell eine seltsame Frage, aber wohnt in ihrem Haus eine alleinstehende Frau? Im Altern zwischen 25 und 40?"

War er wirklich so blind? Ich stand vor ihm! Direkt vor ihm! Ich war in dem Alter! Ich war alleinstehend! War es wirklich so abwegig?

"Kann sein. Ich kenne nicht alle Nachbarn in dem Haus. Hier ist ein ständiges Kommen und Gehen!"

Es war eine Lüge. Ich wusste genau, wer in meinem Haus lebte. Und ich war die einzige, die auf seine Beschreibung passte.

"Schade", sagte er sichtlich bedrückt.

Ich legte meinen Kopf schief.

"Warum fragen sie?"

Er mied meinen Blick und sah zu Boden.

"Ach nur so. Nicht wichtig."

Er war ein erstaunlich schlechter Lügner. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich die Wahrheit kannte.

"Haben Sie die ganze Flyer gesehen?", fragte ich nun, um ihn ein wenig zu ärgern. Ich zeigte auf all die Laternen.

"Hmm. Ja, da scheint jemand wirklich verzweifelt zu sein."

Verzweifelt? War er verzweifelt? Hatte er sich so sehr in die Sache hineingesteigert? Er war ja fast noch schlimmer als ich.

"Aber Sie wissen auch nicht, wer das ist? Diese unbekannte Nachbarin?"

Er schüttelte stumm den Kopf.

Ich könnte es ihm jetzt sagen. Dieses ganze Versteckspiel hätte ein Ende. Doch die Tatsache, dass er sich zumindest in meine Briefe und Nachrichten und verliebt hatte, schmeichelte mir. Vielleicht hatten wir ja doch noch eine Chance, wenn wir uns für eine gewisse Zeit lang, weiterhin Briefe schrieben.

"Ich muss jetzt los", ließ ich ihn wissen. "Wir sehen uns morgen."

Er lächelte höflich und sah zu, wie ich mich von ihm entfernte. Ich verstand, dass er hierhergekommen war, um nach einem Brief hinter dem Zitronenbaum zu schauen.

Ich schloss mein Fahrrad an und betrat mein Hauseingang. Doch statt wie gewohnt die Treppen nach oben zu steigen, blieb ich stehen und beobachtete ihn durch das kleine gläserne Guckloch der Haustür. Er sah sich um und schien sichergehen zu wollen, dass er von niemanden beobachtete wurde.

Dann lief er zu dem Baum und griff hinter den Baumstamm. Er zog den Zettel hervor und ich konnte ein Lächeln in seinem Gesicht sehen. Er entfernte sich schnell wieder vom Fundort und öffnete dann erst den Brief. Ich beobachtete, wie er sofort sein Handy zückte und die Nummer abspeicherte.

Keine Minute später erhielt ich eine Nachricht:

Keine Sorgen, dieses Mal werde ich sie nicht verlieren. Noch einmal passiert mir so ein gravierender Fehler nicht ;)

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt