Kapitel 22 - Was geht in deinem Kopf vor?

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Ich entschied mich dafür, ihm endlich die Wahrheit zu sagen.

Weißt du was? Vielleicht sollten wir uns doch treffen. Ich glaube, ich fühle mich dazu bereit. Ich werde dich auch nicht noch einmal sitzen lassen. Versprochen!

Wie wäre es wieder mit Samstag 15.00 Uhr im Hauptmanngässchen?

Dieses Mal würde ich es durchziehen. Ich erwartete nicht einmal, dass irgendetwas zwischen uns passieren würde. Sondern ich wollte ihm einfach nur die Wahrheit sagen.

Ich kann es kaum erwarten, lautete seine Antwort.

Als ich Herr Wagens am Montag im Büro antraf, gab er wirklich sein Bestes, um sich nichts anmerken zu lassen. Er grüßte mich freundlich und fragte, wie mein restliches Wochenende verlaufen war. Auch versuchte mir nichts anmerken zu lassen, doch ich war darin bei Weitem nicht so gut wie er. Denn dieser Kuss war das romantischste, das ich jemals in meinem Leben erfahren hatte.

Ich spielte nervös mit den Fingern und meine Wangen wurden heiß. Er nahm es wahr. Das konnte ich ihm ansehen, doch er übergang es professionell und wir begannen ein Gespräch über die Ausschreibung einer neuen Stelle.

Es fiel mir schwer mich auf das Gespräch zu konzentrieren. Ich sah mir stattdessen seinen vollen Lippen an, seine dichten Haare, die ihn noch so jung aussehen ließen und die Sommerbräune, die seit der Kaltwetterfront etwas nachgelassen hatte.

Ich würde alles dafür tun, um noch einmal von ihm so geküsst zu werden, wie er es am Freitagabend getan hatte.

Als Erik Wagens in seinem Büro verschwunden war, trat ein älterer Mann in den Raum. Er hatte zerzauste graue Haare, trug ein weißes Unterhemd und eine ausgeleierte Lederjacke. Er roch nach einer Bahnhofskneipe.
"Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?", fragte ich irritiert, denn für gewöhnlich war dieses Büro nicht Publikumsverkehr gedacht.

"Sie sind Frau Maguschka, nicht wahr?", fragte er mit rauer Stimme.

"Ja, genau. Wenn Sie eine Anzeige aufgeben wollen, bin ich jedoch die falsche Ansprechpartnerin. Das müssen Sie vorne bei den Kollegen machen."

Er schüttelte heftig den Kopf.

"Nein, wir beide haben schon geschrieben. Es geht um meine Frau. Sie wurde entführt."

Mir ging ein Licht auf. Ich wusste genau, wer vor mir stand.
"Sie sind Dieter Hagen, nicht wahr?", fragte ich freundlich.

Er nickte und schien dankbar dafür, dass ich seinen Namen kannte. Sofort hatte ich Mitleid mit dem Mann. Auch wenn diese Entführung nicht real war und nur in seinem Kopf existierte, sah ich ihm seinen Schmerz an.

"Genau der bin ich! Bitte sagen Sie mir, dass sie Neuigkeiten bezüglich meiner Frau haben!"

Der Blick des Mannes war verzweifelt.
"Herr Hagen", sprach ich mit sanfter Stimme. "Ihre Frau wurde nicht entführt. Sie ist vor einem Jahr bei einem Straßenbahnunfall gestorben. Erinnern Sie sich?"

Er schüttelte vehement den Kopf.
"DAS IST EINE LÜGE!", schrie er plötzlich mit hochrotem Kopf.

Ich zuckte erschrocken zusammen. Mit dieser lautstarken Reaktion hatte ich nicht gerechnet.

"Bitte beruhigen Sie sich." Ich googlete nebenbei den Zeitungsartikel, der damals bezüglich des Unfalls veröffentlicht worden war. Ich drehte den Bildschirm zu ihm. "Sehen Sie! Die 73-jährige Radfahrerin war Ihre Frau." Ich zeigte auf den Namen im Text. "Gerda H.. Das war doch der Name Ihrer Frau."

"NEIN!", brüllte er nun noch lauter. "SIE STECKEN MIT DENEN UNTER EINER DECKE! NIEMAND HILFT MEINER FRAU! Das ist alles Lüge!" Er war nun den Tränen nahe und trotzdem bekam ich Angst. Ich spürte die unterschwellige Aggression in seiner Körperhaltung.

"Herr Hagen, bitte hören Sie auf zu schreien."

"ICH SCHREIE HIER RUM, WIE ICH WILL!"

Die Tür von Herr Wagens Büro flog auf. Er sah sich um und versuchte die Situation zu erfassen. Man sah ihm an, dass er auf alles gefasst war. Körperlich und psychisch.

"Was ist hier los?", fragte er in den Raum.

"Herr Hagens Frau starb vor einem Jahr bei einem Unfall", setzte ich an, wurde jedoch sofort durch Gebrüll unterbrochen.
"SIE LEBT! UND SIE HATTE KEINEN UNFALL! MAN HAT SIE ENTFÜHRT!"

Fragend sah Herr Wagens mich an. Ich schüttelte nur den Kopf und machte eine Handbewegung in Richtung meines Bildschirms, damit er den Beweis sehen konnte, dass die Frau wirklich nicht mehr lebte.

"Herr Hagen", sprach er gelassen und dennoch bestimmt. Er nickte mir kurz zu und da war wieder ein Bruchteil einer Sekunde, in der ich eine Verbindung zwischen uns spüren konnte. "Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind, aber das rechtfertigen nicht, sich hier so zu verhalten. Ich möchte Sie bitten jetzt mit mir mitzukommen. Ich bringe Sie zu meinen besten Kollegen und diese hören sich alles noch einmal im Detail an und dann schauen wir, wie wir Ihnen am besten helfen können."

Man konnte deutlich sehen, wie der Mann sich entspannte, als er hörte, dass man sich Zeit für ihn nehmen würde. Was Herr Wagens jedoch nicht wusste, war die Tatsache, dass unsere Kollegen sich schon viel zu viel Zeit für diesen Mann genommen hatten.

"Gut", stimmte Herr Hagen zu.

Herr Wagens begleitete den Mann aus dem Büro und kam keine zwei Minuten später wieder zurück.

"Ich wusste nicht, dass er so verzweifelt ist", ließ er mich wissen und sah mich entsetzt an. "Sie hatten mir von dem Fall erzählt, aber dieser Mann braucht wirklich Hilfe. Bestellen Sie doch bitte jemanden vom psychologischen Dienst hierher, der auch noch mit dem Herren reden kann."
"Wird gemacht."

Ich suchte aus unserem Telefonbuch die Nummer heraus und spürte, wie Herr Wagens Blick derweil auf mir ruhte. Ich blickte nicht zu ihm auf, doch ich sah im Augenwinkel, dass er innehielt, um mich zu beobachten. Er schien mein Gesicht zu mustern und ließ dann seinen Blick über meinen Körper schweifen. Schließlich griff ich zum Hörer und sah dann zu ihm auf. Erst in diesem Moment wandte er sich schnell von mir ab und verschwand in seinem Büro.

Was geht nur in deinem Kopf vor sich?, dachte ich insgeheim. Ist da doch mehr? 

Ich würde es hoffentlich am Samstag erfahren.

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt