Kapitel 23 - Glück und Pech

1.1K 142 7
                                    

Heute war der Tag gekommen. Dieses Mal würde ich keinen Rückzieher machen. Und vor allem würde ich mir keine unrealistischen Hoffnungen machen.

Ich hoffte weder auf einen Kuss noch auf irgendeine Form von Romantik. Stattdessen wollte ich die Situation nutzen, um alles aufzuklären und reinen Tisch zu machen. Dementsprechend hatte ich mich auch nicht aufwendig gestylt. Er sollte nicht den Eindruck bekommen, dass das ein Date war.

Ich bekam eine Nachricht:

Tut mir leid. Ich muss für heute leider absagen. Erklär dir später alles.

Geschockt starrte ich auf den Bildschirm. Unser Treffen war in einer halben Stunde und er sagte jetzt ab?

Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

Ich hatte es satt.

So satt!

Frust breitete sich in mir aus. Dieses Spiel nahm einfach kein Ende.

Ich konnte ihm nicht einmal einen Vorwurf machen, schließlich hatte ich vor zwei Wochen exakt das gleiche mit ihm gemacht. War das eine Art Rache? Eigentlich schätzte ich ihn nicht so ein. Doch was war auf einmal so viel wichtiger, als unser Treffen? Er hatte sich doch so sehr gefreut.

Um nicht in das nächste Loch zu fallen, zog ich mir trotzdem meine Schuhe an und machte mich auf den Weg zu Wilma. Ich brauchte jemanden zum Reden.

Sie wohnte in einer alten Stadtvilla, an der sich die Rosen hochrankten. Sie hatte es vor 5 Jahren von ihrer Großmutter vererbt bekommen. Innerhalb dieser Zeit hatte sie die Innenräume in ein wahres Paradies verwandelt. Die alten Teppiche waren einem Parkettboden aus Eiche gewichen. Schwere englische Möbel, wurden durch gemütliche skandinavische Stücke ersetzt. Im gesamten Haus standen Pflanzen, sodass es immer lebendig aussah.

Wilma öffnete die Tür. Ihr liefen Tränen über ihr Gesicht. Ehe ich etwas sagen konnte, fiel sie mir um den Hals.

Dann flüsterte sie mir etwas ins Ohr, dass alles änderte.

"Ich bin schwanger."

Meine Kinnlade fiel nach unten. Plötzlich liefen auch mir die Tränen über die Wangen.
"Du bist schwanger?"

Ich sah auf ihren flachen Bauch.

"Ich habe eben fünf Tests gemacht. Alle positiv."
Noch nie zuvor hatte ich in meinem Leben so pure Freude gesehen. Dieses Kind würde das Maximum an Liebe bekommen. Das stand jetzt schon fest.

Ich drückte Wilma wieder fest an sich. Es war ihr größter Traum und es machte mich so glücklich, das er endlich in Erfüllung gegangen war. Sie hatte es so sehr verdient. Wilma hatte in den letzten Jahren so viele Prozedere über sich ergehen lassen müssen. Endlich hatten all die Spritzen und Arztbesuch Erfolg.

"Ich weiß, dass es ich noch ganz am Anfang bin und viel passieren kann", sprach sie hastig. "Aber soweit waren wir noch nie! Ich habe wirklich ein gutes Gefühl." Sie legte sich ihre Hand auf den Bauch. "Ich bin in 9 Monaten vielleicht Mama." Man sah ihr die Überforderung und Ungläubigkeit an. Da wuchs tatsächlich etwas Kleines in ihrem Bauch heran.

Sie biss sich auf ihre Unterlippe, denn sie schien es nicht begreifen zu können.

"Hast du es Eren schon gesagt?"

Sie nickte.

"Eben am Telefon. Erst ist gerade auf dem Weg nach Hause. Lotta, ich kann das nicht fassen", sprach sie gerührt und ihre Stimme brach ab. "Da wächst ein Baby in mir."

Ich herzte sie erneut und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

"Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich für euch freue. Ihr werdet die besten Eltern sein, die es auf dieser Welt gibt."

Ich hörte, wie ein Auto in die Einfahrt einbog. Es war Eren, der mit einem breiten Grinsen am Steuer saß.

"Ich lass euch mal lieber allein! Genießt den Moment!"

Sie hörte mich kaum noch, denn sie lief schon auf das Auto zu. Ich sah zu, wie die beiden sich freudestrahlend in die Arme fielen. Tränen kullerten.

Es rührte mich so sehr zu sehen, wie sich herzten, weinten, lachten, küssten und umarmten. Ihre Freude schien keine Grenzen zu kennen.

Ich wünschte, dass ich irgendwann dieses Gefühl auch mit jemanden teilen konnte. So sehr ich mich für die beiden freute, umso größer wurde auch die Einsamkeit in mir. Ein Kind würde bedeuten, dass ich Wilma nicht mehr ständig sehen konnte. Ihr Kind würde viel Aufmerksamkeit brauchen und unsere Treffen vermutlich zur Rarität werden.

Für die beiden war es ein Schritt näher an das vollkommene Glück. Für mich jedoch war es ein weiterer Schritt in die Einsamkeit.

Ich blickte auf mein Handy. Ich hatte eine neue Nachricht bekommen.

Es tut mir wirklich leid, aber wir werden uns erst einmal nicht mehr treffen können. Mein Vater hatte einen Schlaganfall und es sieht nicht gut aus. Ich bin gerade auf den Weg in die Heimat, um meiner Mutter beizustehen. Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme.

Für manche war es der schönste Tag in ihrem Leben, während andere durch die Hölle gingen. 

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt