Kapitel 15 - Gefangen

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Hallo Unbekannte,

ich habe gar nichts mehr von dir gehört. Entweder du hast plötzlich das Interesse verloren (was ich nicht hoffe!) oder jemand hat den Brief geklaut. Wie wäre es, wenn wir Nummern austauschen? Ich finde die altmodische Papiervariante zwar immer noch toll, doch die Technik von heute hat auch durchaus ihre Vorteile.

Antworte mir doch am besten unter folgender Nummer: 0049 178 568 0078 435

Er meinte es wirklich ernst und ließ nicht locker. Normalerweise hätte mich das riesig gefreut, doch unter den Umständen war es einfach nur tragisch. Zwischen uns würde nie etwas laufen. Das ließ weder unser Arbeitsverhältnis zu, noch unsere Persönlichkeiten. Er war ein Anführen. Jemand, der genau wusste, was er im Leben wollte und Verantwortung übernehmen konnte. Und ich war so ziemlich das Gegenteil und ruderte schon seit Jahren unkoordiniert durch mein Leben.

Trotzdem war es besser, wenn ich ihm zumindest schrieb, dass ich tatsächlich kein Interesse mehr an einem Treffen hatte. Ich nahm mir vor, dies heute Abend zu tun.

Ich steckte mir den Brief in die Jackentasche und radelte zur Arbeit. Die Hitzewelle war durch kalte Regenschauer abgelöst worden. Und dieser prasselte nun rücksichtslos auf mich ein. Zwar hatte ich mich mit einem Regencape gewappnet, doch mittlerweile strömten die Fluten über mein Gesicht den Hals hinunter in mein Dekolletee. Von dort verteilte sich das Wasser auf meinem gesamten Körper.

Als ich an der Wache ankam, könnte man meinen, ich wäre soeben von einem Tauchgang zurückgekommen. Ein Gänsehaut hatte sich auf meinem gesamten Körper ausgebreitet und vermutlich liefen meine Lippen schon blau an.

"Bei dem Wetter mit dem Fahrrad?", hörte ich eine vertraute Stimme, die mich zusammenzucken ließ.

Es war Erik Wagens, der gerade aus seinem Auto stieg. Er hielt sich zum Schutz seine Aktentasche über den Kopf.

"Man gibt schließlich sein bestes, um nachhaltig zu leben", erwiderte ich mit einem schwachen Lächeln.

Als ich das Schloss meines Fahrrads abschließen wollte, zitterte meine Hände vor Kälte. Auch Herr Wagens entging das nicht. Er trat ein paar Schritte an mich heran und stellte seine Tasche auf den nassen Boden.

"Kommen Sie her, ich mach das für Sie", sagte er und nahm mir den Schlüssel aus der Hand, wobei sich unsere Finger minimal berührten. Seine Hände waren angenehm warm und ich wünschte, dass unser Körperkontakt länger bestanden hätte. Ich sah zu ihm, doch er war auf das Schloss fokussiert. Schließlich machte es Klick.

"So, und jetzt ab mit Ihnen ins Warme. Ich mache Ihnen einen Kaffee. Oder wollen Sie lieber Tee?"

Gerührt von seiner Fürsorglichkeit brachte ich nur das Wort "Tee" über meine Lippen.

Warum musste er so nett sein? Ich könnte mit der Situation deutlich besser umgehen, wenn ich wüsste, dass er eigentlich ein Mistkerl war.

"Kräuter? Früchte? Schwarz?"

"Kräuter."

Er lächelte und zumindest mein Herz erwärmte für ein paar Sekunden.

"Ich hoffe, Sie haben noch etwas Trockenes zum Anziehen. Ansonsten kann ich Ihnen nur etwas aus unserer Kleiderkammer anbieten."

Ich wrang meine Haare aus.

"Schon okay, ich habe im Spind noch Wechselklamotten."

Wieder lächelte er und ich hatte das Gefühl, dass alle Regenwolken von seinem Lächeln weggeschoben wurden. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so verknallt gewesen zu sein. Nicht einmal als Teenager, als Hormone die Herrschaft über mein Handeln und Denken übernommen hatten.

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt