Kapitel 34 - Prioritäten

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Ich starrte auf die zugefallene Tür.

Nein!

Das konnte ich nicht zulassen!

Ich wollte ihn nicht verlieren. Also riss ich die Tür auf und hörte wie Schritte gerade das Treppenhaus verließen. Barfuß rannte ich nach unten und nahm dabei immer zwei Stufen.

Er hatte das Gebäude bereits verlassen, als ich ihn erreicht. Es regnete in Strömen.

Ich packte seinen Arm und drehte ihn zu mir, als gerade unter einer Laterne langlief.

Ich schloss ihn in eine Umarmung. Er ließ es zu.

"Ich verlasse dich nicht wegen so etwas", versicherte ich ihm und drückte ihn so fest ich konnte an mich. "Du bist der beste Mann, den ich mir vorstellen kann und du bist perfekt. Genau so, wie du bist."

Der Regen peitschte uns ins Gesicht. Die Bäume um uns herum bogen sich im Wind. Die Szenerie unterstrich die Dramatik der Situation. Das hier war gerade ein entscheidender Wendepunkt in meinem Leben.

"Aber du willst doch ein Kind", sprach er mit zittriger Stimme und strich mir meine nassen Haare aus dem Gesicht.

Ich zuckte mit den Achseln. Ich war selbst von meiner Reaktion erstaunt. Ja, ich wollte ein Kind, aber eventuell gab es etwas wichtigeres als das: Liebe.
"Ja, aber es gibt andere Wege", versuchte ich ihn zu beschwichtigen. "Vor allem will ich aber jemanden an meiner Seite haben, dem ich bedingungslos vertrauen kann, der mich liebt und wertschätzt. Seitdem du in meinem Leben bist, bin ich so glücklich. Das ist das, was zählt. Du zählst für mich. Du machst mich glücklich"

Er schien nicht mit dieser Reaktion gerechnet zu haben. Er war vollkommen überwältigt von seinen Gefühlen.
"Aber -."

Ich legte ihm meinen Finger auf die Lippen.

"Kein Aber!", ließ ich ihn wissen.

Er schüttelte den Kopf und nahm meine Hand.

"Du weißt nicht, worauf du dich einlässt. Ich habe das alles schon mit meiner Ex-Freundin durchgemacht. Eine Adoption dauert viele Jahre und selbst dann weißt du nicht, ob es wirklich klappt. Und eine künstliche Befruchtung geht in meinem Fall nicht. Tut mir leid, dass ich jetzt so biologisch werden muss, aber mein Sperma ist einfach komplett unbrauchbar. Meine Ex-Freundin hat sich so viele Hormone gespritzt, um die Chancen zu verbessern, doch am Ende hat der Arzt festgestellt, dass es bei mir einfach nicht geht. Egal, wie viel man nachhilft."

Er redete schnell und undeutlich. Offensichtlich hatte all das schon viel zu lange in ihm geschlummert.

"Wir finden einen Weg", gab ich mich zuversichtlich. Ich wollte ihn nicht verlieren. Er machte mich glücklich und das war das, was zählte. Alles andere schien mir auf einmal irrelevant zu sein.

Wieder schüttelte der heftig den Kopf. Es war, als würde er einfach nicht akzeptieren wollen, dass er mir wichtiger war, als alles andere.

"Es gibt keinen Weg. Ich bin bereits jeden gegangen."

"Ich weiß nicht, ob wir schon an dem Punkt sind, an dem man so detailliert über Familienplanung spricht, aber man kann sich auch mit fremden Spermien besamen lassen. Ich weiß, dass es dann nicht dein biologisches Kind wäre, aber das wäre es ja bei einer Adoption auch nicht."

Er hielt kurz inne.

"Das käme für dich in Frage? Für Marie war das nie eine Option gewesen. Schließlich hätte sie das Kind eines fremden Mannes ausgetragen."

Ich nickte langsam.

"Ich denke schon. Ich muss gestehen, dass ich mich damit sogar schon auseinandergesetzt habe, denn man kann das in Dänemark auch als Alleinstehende machen. Und ich hätte das durchaus in Erwägung gezogen, falls ich wirklich nie einen Partner gefunden hätte."

Überrascht zog er eine Augenbraue hoch.

"Wirklich?"

"Ja, ein eigenes Kind bedeutet mir wirklich alles, sodass ich auch bereit wäre diesen Weg zu gehen. Ohne einen Partner oder eben noch besser: Mit einem Partner."

"Sag bitte nicht, was du nicht wirklich so meinst."

"Erik", sprach ich nun eindringlich und strich ihm über die Wange. Sein Drei-Tage-Bart kratzte unter meinen Fingern. "Ich meine es genau so, wie ich es sage. Und selbst, wenn das nicht klappt, kann man über Pflegekinder nachdenken oder ..." Ich hielt kurz inne und durchdachte meine Worte gut. Ich entschied mich sie auszusprechen: "Oder man lebt eben kinderlos. Du bist mir wichtiger."

Ich konnte kaum glauben, dass ich das soeben gesagt hatte, doch es war wahr. Erik tat mir so gut. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Er war perfekt und er konnte nichts dafür, dass er unfruchtbar war. Liebe hatte ich keine Kinder, als ohne ihn leben zu müssen.

"Ich liebe dich", hauchte ich ihm das erste Mal die magischen drei Worte zu.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, von dem der Regen tropfte.

"Ich liebe dich", antwortete er. "Aber ich will dir deinen Lebenstraum nicht zerstören."
"Glaube mir: Das tust du nicht. Denn du bist mein Lebenstraum."

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt