Kapitel 26 - Unerwartetes Wiedersehen

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Filip schlief schnell ein und schnarchte lauter, als mein Opa. Doch das war nicht einmal der Grund, warum ich nicht schlafen konnte. Vielmehr hielten mich meine Gedanken ab. Noch immer dachte ich an Erik Wagens. Ich wünschte, er würde neben mir liegen.

Als es 4 Uhr morgens war, stand ich leise auf. Ich wollte ihn nicht wecken.

Auf Zehenspitzen schnappte ich mir meine Kleidung und schlich mich ins Wohnzimmer. Dort zog ich mich schnell an, griff nach meiner Tasche und verließ die Wohnung fluchtartig. Leise zog ich die Tür hinter mir zu.

Das erste, was ich tun würde, wenn ich wieder zuhause ankommen würde, war eine reinigende Dusche. Ich fühlte mich dreckig und benutzt.

Ich musste gut 30 Minuten zu Fuß zurücklegen, ehe ich in meine Straße einbog. Vor dem Zitronenbaum hielt ein Taxi und ein Mann stieg aus. Er zog einen großen Koffer hinter sich her. Ich sah nur seine Silhouette, doch in diesem Fall reichte das aus. Schließlich hatte ich seine Silhouette schon oft genug durch das Milchglas schimmern sehen.

"Herr Wagens?", kam es ungläubig über meine Lippen.

War das ein Traum?

Erschrocken drehte er sich um. Offenbar hatte auch er nicht damit gerechnet, mich um halb fünf morgens hier zu sehen. Ich konnte ihm ansehen, dass er einen Moment brauchte um mich zu erkennen. Im Gegensatz zu ihm, stand ich in der kompletten Dunkelheit.

"Frau Maguschka. Was machen Sie denn um diese Uhrzeit hier? Geht es Ihnen gut?"

Ich näherte mich ihm und spürte sofort, wie gut es mir tat, ihn zu sehen. Mir fiel aber auch auf, dass er ausgelaugt war.

"Gut", log ich. "Aber was ist mit Ihnen? Sie waren lange weg. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?"

Seine Gesichtszüge verdunkelten sich und ich spürte sofort, dass nichts in Ordnung war. Wie sollte es auch? Sein Vater war dieses Jahr verstorben. Doch er lächelte tapfer.

"Es geht so. Es war eine schwierige Zeit für meine Familie. Aber ich fühle mich wieder fit genug, um am Montag zu arbeiten. Wir werden uns also wieder regelmäßig sehen."

Diese Worten erwärmten mein Herz. Er war Monate nicht da gewesen und unser Kuss schien vergessen zu sein. Zumindest gingen wir wieder entspannter miteinander um.

"Das freut mich! Alle haben Sie sehr vermisst."

Wieder zwang er sich dazu, die Mundwinkel zu heben. Zu gerne würde ich ihn in den Arm nehmen. Er sah so aus, als könnte er es gut gebrauchen.

"Ich bin auch froh, wieder hier zu sein. Ich wäre gern schon früher gekommen, aber es ging leider nicht."

"Ja, ich weiß. Andy hat es mir grob erzählt, was passiert ist."

Herr Wagens Augen glänzten, als würde er mit den Tränen kämpfen.

"Es ist nicht leicht heutzutage ein Pflegeheimplatz zu ergattern. Ich habe mich um meine Mutter gekümmert, bis wir endlich eine Zusage erhalten haben", erklärte er kurz. "Sie kann nächste Woche einziehen. Bis dahin kümmert sich meine Schwester um sie."

Im Licht der Laterne sah er trotz seiner Abgeschlagenheit jünger aus. Aber auch schmaler. Er hatte in den letzten Wochen offensichtlich nicht genug gegessen.

"Es tut mir wirklich leid, dass Sie das durchmachen müssen", ließ ich ihn schließlich mitfühlend wissen.

"Irgendwann müssen wir da alle durch. Die Eltern sterben meistens vor den Kindern und so sollte es auch sein. Den wenigsten bleibt dieser Schmerz erspart."

Er hatte recht und doch erschütterte mich die Erkenntnis. Noch nie zuvor hatte ich mir darüber Gedanken macht. Tatsächlich gab es jedoch höchstwahrscheinlich ein Tag X in meinem Leben, an dem ich meine Eltern zu Grabe tragen musste. Das war grausam, aber die alternative Variante war, dass ich früh starb.

Dieses Leben war einfach unfair.

"Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich muss jetzt wirklich ins Bett. Ich hatte eine lange Anreise. Wir sehen uns am Montag", entschuldigte er sich.

"Natürlich. Ruhen Sie sich aus!"

"Sie sich auch!"

Wir lächelten uns zum Abschied an und gingen dann getrennte Wege.
Mein Herz überschlug sich derweil vor Freude. Ihn wiederzusehen war seit langem mal wieder tief empfundene Freude gewesen. Er war wie eine Droge. Ich konnte nicht mit ihm, aber auch noch ohne ihn. 

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt