Kapitel 2 - Unbefristet unglücklich

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Wilma fiel mir um den Hals.

"Das ist großartig! Herzlichen Glückwunsch! Darauf müssen wir anstoßen!" Ich lächelte, doch Wilma spürte sofort, dass es nicht authentisch war. "Was ist?", hakte sie nach. "Seit Monaten ist es genau das, was du wolltest? Warum bist du jetzt so betrübt? Du wurdest entfristet! Das ist doch ein Grund zum Feiern!"

Ich seufzte und nippte an meinem Cocktail.

Wir saßen in unserer Lieblingsbar, von dessen Dachterrasse man über die gesamte Stadt sehen konnte. Es war ein lauer Sommerabend und die Luft schien zu stehen. Nicht ein Windhauch war zu spüren. Die Hitze flimmerte über den Dchern und aus den Boxen ertönten sanfte Elektrobeats. Der Geruch von Shisha lag in der Luft.

"Ich weiß", sprach ich zögerlich. "Aber ich habe ich mich gefragt, was jetzt mit meinem Leben ist. Ich werde nächste Woche 30 und stecke jetzt schon in meinem Alltagstrott fest. Beruflich hatte ich nie große Ziele. Ich wollte einfach nur einen sicheren Job und den habe ich jetzt. Worauf soll ich jetzt hinarbeiten? Beruflich habe ich genau das bekommen, was ich wollte. Und was meine anderen Ziel betrifft, habe ich komplett versagt. Kein Mann, kein Haus, keine Kinder...nichts. Nicht einmal in Aussicht. Und ich bin fast 30. Ich höre meine Uhr ticken. Verstehst du? Und jetzt, wo ich entfristet bin, habe ich gar kein realistisches Ziel mehr, worauf ich mich freuen kann."

Wilma sah mit mitleidig an und stellte ihr Glas auf den Holztisch. Ich hatte nun ihre gesamte Aufmerksamkeit.

"Lotta, gib dich doch nicht auf. Du bist fast 30 und nicht fast 60. Da ist doch noch alles möglich."

Ja, das sagte sich natürlich leicht, wenn man schon seit 8 Jahren mit dem selben Mann in einer Beziehung war und schon seit zwei Jahren glücklich verheiratet.

"Ich verliere langsam wirklich die Hoffnung. Es ist doch nicht einmal jemand in Aussicht."

"Nicht einmal auf der Wache? Da sind doch nur Männer."
Ich verdrehte die Augen. Das würde mir gerade noch fehlen! Eine Affäre mit einem unserer Polizisten... Dann blieb ich doch lieber Single.

"Die sind alle jung und durchtrainiert. Glaubst du wirklich die stehen auf jemanden wie mich?"

Ich fuhr mit meinen Händen meine Silhouette ab. Ich hatte große Brüste. Jedoch nicht von der schönen Sorte, sondern eher von der hängenden Sorte, da die Gravitation sich mittlerweile bemerkbar machte. Mein Hintern passte auch nicht mehr in eine 36 und mein Bauch war zwar flach, aber weich wie Pudding. Meine Kollegen konnten hübschere Frauen als mich haben und das sah ich auch jedes Mal, wenn wir eine Betriebsfeier hatten und jeder seine Liebste in knappen Kleidern zur Schau stellte.

"Ach Lotta, du bist so eine Hübsche. Dein Lachen ist so sympathisch und offen. Und glaube mir: Jede Frau träumt davon so eine reine porenfreie Haut wie du zu haben! Ganz zu schweigen von seinen Locken! Lass dir nicht einreden, dass du hässlich bist!"

Wenn ich mich nackt im Spiegel sah, fühlte ich mich alles andere attraktiv. Da brachte mir auch meine Lockenpracht und meine Porzellanhaut nichts.

"Ich sag' auch nicht, dass ich hässlich bin, aber mit den Vorraussetzungen, die ich mitbringe, ist die Männerwahl schon eingeschränkt."
"LOTTA! Hör auf, wo etwas zu sagen! Du bist richtig sexy mit deinen Kurven!"

Ich glaubte Wilma sogar, dass sie das ernst meinte. Doch das änderte nichts daran, dass ich meinen eigenen Körper anders wahrnahm. Früher, als mein Bindegewebe noch gut war, hatte ich mich mit meiner Figur wohlgefühlt. Doch es fiel mir schwer den Alterungsprozess zu akzeptieren. Und das nicht nur optisch. Ich hatte Angst davor nie jemanden zu finden und einsam zu sein. Manchmal fühlte ich mich schon so. Was war, wenn ich in 50 Jahren zu denjenigen gehören würde, die man nach Wochen tot in der Wohnung fand, weil Nachbarn sich über den widerlichen Geruch beschwerten.

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt