"Lan Zhaaaan!" Schweißgebadet erwachte Wei Xian und wusste im ersten Moment nicht, wo er sich befand, bis er eine metallisch klingende Stimme vernahm. "Einen guten Morgen Master Wei, es ist jetzt 0700, das Frühstück steht bereit, die Außentemperatur beträgt 77 °F (ca. 25 °C), heute liegen keine Termine an." "Danke Alice." Die verdunkelte Fensterfront erhellte sich und Wei Xian stand auf und ging ins Bad. Da er seit seinem 16. Geburtstag immer nackt schlief, trat er direkt in die Duschkabine, die bei Berührung der Sensoren ansprang und ihn benebelte. "Zahnreinigung" er öffnete seinen Mund, aber nichts geschah. "Alice, die Zahnreinigung springt wieder nicht an." "Entschuldigung Master Wei." Leises Summen war zu hören, das Licht am Fliesensensor flackerte kurz von Rot auf Grün und die Ultraschallwellen der Zahnreinigung begannen mit ihrer Arbeit. "Danke Alice." Er wusste, dass er seiner KI nicht danken musste, aber er machte es trotzdem. Wei Xian war überzeugt, dass die Welt, in der er lebte, ohnehin schon zu steril und unnahbar war und sich niemand mehr die Mühe machte danke oder Bitte zu sagen. Nachdem er seine übliche Routine am Morgen beendet hatte, begab er sich in sein Ankleidezimmer und die Türen der Schränke öffneten sich surrend. Großartig entscheiden musste er sich nicht, da seine Kleidung hauptsächlich aus roten Oberteilen und schwarzen Hosen sowie Jacken bestand. Summend betrat er anschließend die offene Küche, nahm seinen Becher Kaffee und stellte sich vor das große Panoramafenster. Wobei sein ganzes Penthouse rundum nur aus Glas bestand, hatte er jedoch an dieser Stelle einen fantastischen Blick auf den Hudson River, jedenfalls das, was davon noch übrig war. Er trank seinen Kaffee und rümpfte wie jeden Morgen die Nase. Entkoffeiniert, bäh. Nach dem letzten Update war Alice auf einem übertriebenen Gesundheitstrip und überwachte regelmäßig seine Vitalwerte. Wei Xian stellte seine Tasse in die Spülmaschine, griff nach seiner Tasche und schnappte sich beim Hinausgehen noch einen Apfel. "Bis heute Abend Alice, mach keinen Unsinn in meiner Abwesenheit." Wei Xian schmunzelte beim Schließen der Tür, da er Alice wie jeden morgen damit ärgerte und diese sich auf seinem Intercom direkt meldete, um ihn darüber zu informieren, dass dies ihre Programmierung nicht zuließe. Immer noch schmunzelnd betrat er den Fahrstuhl, fuhr hinunter in die Tiefgarage und stieg in seinen Chopter. "Guten Morgen, Master Wei" erklang eine Stimme aus dem Lautsprecher. "Guten Morgen LZ, zur Galerie bitte.""Sehr wohl." Leise erhob sich der Chopter, reihte sich in den Verkehr ein und gewann schnell an Höhe. Da Wei Xian zur Oberschicht gehörte, musste er nicht wie die übrige Bevölkerung zwischen den Häuserfronten fliegen, sondern überflog diese einfach. An manchen Tagen beobachtete er von dort oben den Verkehr in der Tiefe und dachte, wie es wohl wäre, zur Unterschicht zu gehören, oder gar zu denen, die weder Rang noch Namen hatten. Denn diese mussten, sofern sie keine Credits hatten, in den stickigen, verdreckten Gassen laufen. Wei Xian zweifelte öfter diese Rangordnung an, denn nach dem großen Krieg sollten alle gleich behandelt werden, so hatte er es jedenfalls in den alten Annalen gelesen. Jedoch lag dieses auch schon wieder fast 400 Jahre in der Vergangenheit und niemand wollte sich mehr daran erinnern. Aber heute waren seine Gedanken weit weg von alledem. Wei Xian versuchte wieder einmal sich seinen Traum in Erinnerung zu rufen, allerdings schaffte er es abermals nicht. Jedes Mal, wenn er erwachte, verblasste er sofort und es erinnerte ihn nur sein verschwitzter Körper daran. "Master Wei? Wir sind bereits angekommen, möchten sie heute nicht aussteigen?" LZ unterbrach ihn in seinen Gedanken und er stieg zügig aus, ohne ein weiteres Wort. LZ war nicht Alice, wenn er mit ihr frotzelte, gab sie ihm wenigstens eine Antwort, LZ jedoch kam jedes Mal mit einer Gegenfrage um die Ecke oder verstummte. Also ließ Wei Xian es mit der Zeit. Die KI seines Chopter verhielt sich fast wie ein englischer Butler, immer korrekt und besserwisserisch. Wenn er dabei noch näseln würde, hätte sich Wei Xian damals als er den Chopter kaufte vor Lachen weggeschmissen. Er nannte ihn LZ, da er überzeugt war, es würde zu ihm passen.
"Ah, beehrst du mich auch mal mit deiner Anwesenheit, Xi?" "Dir auch einen guten Morgen Yin Yin." "Xi, nenn mich nicht immer so.""Warum? Du nennst mich doch auch nur Xi und wie ich meine Angestellten nenne, musst du schon mir überlassen." Wei Xian verkniff sich ein Lachen, denn normalerweise ließ er nie den Chef raushängen. Jiang Yin stob schmollend ab. Xian zählte langsam von 10 runter. Kaum war er bei der eins angelangt, kam Yin wieder herein und übergab Xian einen Becher Kaffee. "Hier, du Morgenmuffel, damit dein Koffein-Pegel steigt.""Danke Yin und ich bin kein Morgenmuffel. Ach, und wenn wir schon dabei sind, wir haben gerade mal acht Uhr, sei froh, dass ich nicht wie sonst erst um 10 hier bin." Jiang Yin sah erstaunt auf sein Interface am Handgelenk und dann Wei Xian an. "Oh äh." Yin kratzte sich verlegen am Nacken. "Lass gut sein. Alice hat gesagt, dass ich heute keine Termine habe, also werde ich ins Atelier gehen und malen" und schon war er die Treppe hinauf. Yin sah ihm nach. Er sieht heute wieder krank aus. Hatte er abermals einen dieser Träume? Die Stunden vergingen und es war bereits Mittag. Yin sah hoch zum Atelier. Nachdem er hin und her überlegt hatte, nahm er sich ein Herz, stieg die Treppe hinauf und blieb auf dem Podest stehen. Da Wei Xian geschlossene Räume hasste, hatte er die Galerie vor der Eröffnung umbauen und alle nichttragenden Wände entfernen lassen. Auch die Fenster mussten dran glauben und somit war das Gebäude eher ein Glaspalast. Jiang Yin hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt, bei seiner Arbeit von außerhalb beobachtet zu werden. Wei Xian saß mit dem Rücken zu ihm und bemerkte Jiang Yin nicht. Yin räusperte sich, aber auch darauf kam keine Reaktion seitens Xian. "Xian? Es ist Mittag, hast du hunger?" Langsam ging er auf Xian zu, da er ihn nicht erschrecken und somit eventuell sein Bild ruinieren wollte. Xian hatte seinen Pinsel bereits beiseitegelegt, starrte auf die Leinwand vor ihm und war wie in Trance. Erst als Jiang Yin seine Hand auf dessen Schulter legte, zuckte er zusammen und sah ihn aus trüben Augen an. "Yin? Ist etwas passiert? Warum schaust du so komisch?""Nein, es ist nichts, aber ich habe dich mehrfach angesprochen. Wer ist das und warum hat er kein Gesicht?" Jiang Yin war etwas verwirrt, denn Wei Xian hatte noch nie Personen gemalt. "Ich, äh, ich weiß es nicht." Xian sah sich jetzt das Bild genauer an, er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er überhaupt angefangen hatte. Dort auf der Leinwand stand eine Person in weißen Gewändern. Gewändern, die er noch nie gesehen hatte. Lange schwarze Haare, groß gewachsen und schlank. Aber sein Gesicht war nur eine helle Fläche. "Mittag sagst du? Ich ging davon aus, dass ich mich gerade erst hingesetzt habe." Yin sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Nach einer Weile brach er die Stille, die entstanden war. "Xi, verzeih mir meine Neugierde, aber ist das jemand aus deinen Träumen? Hattest du letzte Nacht wieder einen? Konntest du dich erinnern?" Xian schüttelte nur verneinend seinen Kopf und stand dann von seinem Platz auf. Nun bemerkte er auch, dass in seinem Magen ein Loch war. Schließlich hatte er nichts zum Frühstück. Der Apfel, den er am Morgen mitgenommen hatte, lag immer noch unberührt auf seinem Schreibtisch in der Ecke. Xian ging zur Fensterfront und sah auf die belebte Einkaufsmeile, ohne etwas wahrzunehmen. Seine Gedanken schweiften wieder einmal ab. Warum kann ich mich an meine Träume nicht erinnern? Ist er aus meinem Traum, oder werde ich jetzt langsam verrückt? "Xi, komm, lass uns zu Mittag essen gehen. Dein Magen knurrt so laut, dass ich es schon mit der Angst bekomme" lachend legte Yin seinen Arm um Xians Schulter und zog ihn mit sich zur Treppe. Ohne etwas zu erwidern, ließ sich Xian einfach mitreißen. Zusammen gingen sie in ihr Lieblingsrestaurant an der Ecke und bestellten wie immer Fleischbällchen in scharfer Soße mit Beilage. Normalerweise war es Wei Xian, der beim Essen immer schwatzte, jedoch aß er heute schweigend. Jiang Yin sah ihn immer wieder besorgt an. Selbst dies bekam Xian nicht mit und Yin beließ es erst einmal dabei. Nachdem sie ihr Essen beendet hatten, bestellte Yin Tee für sie beide. Xian nahm einen Schluck und hätte ihn beinahe wieder ausgespuckt. "Ayo, was ist das denn für Spülwasser? Yin, die wollen mich hier vergiften." "Xian, beruhige dich, das ist Tee, kein Kaffee. Sag bloß, du hast es nicht erkannt? Den haben wir früher auf der Uni immer getrunken." Yin musste sich das Lachen verkneifen, denn er hatte mit Absicht Tee bestellt, um Xian aus der Reserve zu locken. "Also wolltest du mich vergiften" Xian knurrte ihn schmollend an. "Nein, nein, ich wollte dich nur ein wenig wachrütteln. Du bist seit heute Morgen etwas neben der Spur.""Na schönen Dank auch. Nur, weil ich in Gedanken bin, bin ich gleich neben der Spur, netter Freund.""Nun komm schon, hör auf zu schmollen und lass uns über das Bild reden.""Was soll ich dazu sagen? Ich weiß ja nicht einmal, dass ich es überhaupt gemalt habe." Yin sah ihn forschend an. In den vergangenen Wochen war es schlimmer geworden. Tiefe Schatten hatten sich um die hübschen Augen gebildet. Seine hohen Wangenknochen traten, jetzt, da er so sehr abgenommen hatte, noch mehr hervor. Yin wusste, dass Alice seine Vitalwerte überwachte und es nicht an Mangelerscheinungen liegen konnte. Somit blieben nur die Träume, doch an diese konnte er sich anscheinend nicht erinnern. Oder er will es nicht. Yin machte sich ernsthaft Sorgen um seinen Freund, schließlich sind sie fast wie Brüder aufgewachsen. Sie waren Nachbarn bis zu dem schrecklichen Unfall seiner Eltern. Da Xian keine lebenden Verwandten mehr hatte, wurde er von Yins Eltern aufgenommen und wuchs mit ihm und seiner Schwester Jiang Li in Yunmeng auf. Doch nun gab es nur noch sie zwei, denn nachdem die Kuppelstadt explodiert war, zogen sie nach New York. Weit weg von der schrecklichen Nacht. Dies war inzwischen auch bereits 13 Jahre her. Bis heute wusste man nicht, warum es geschah. Alle verbliebenen Kuppelstädte auf der Welt wurden überprüft und verbessert. Yin seufzte, Xian hatte schon wieder diesen leeren Ausdruck in seinen Augen. "Wie wäre es, wenn du dir mal freinimmst? Ein paar Tage Urlaub" Yin ergriff dabei Xians Hand. "Mh? Was hast du gesagt? Ach, Urlaub." Xian lächelte schwach und entzog ihm seine Hand. "Wo soll ich denn deiner Meinung Urlaub machen? Draußen in der Wildnis, mit einem Schutzanzug?" Xian sah wieder geistesabwesend aus dem Fenster. "Nun, vielleicht solltest du unsere alte Heimat besuchen." "Heimat? Yunmeng gibt es nicht mehr oder soll ich nach Peking, in diese überfüllte Stadt? In China gibt es nur noch diese eine Kuppelstadt.""Nein, sie haben Suzhou wieder aufgebaut und dort eine neue Kuppelstadt errichtet." "Suzhou? Warum nicht Shanghai?""Shanghai existiert nicht mehr, alles im Südosten liegt unter Wasser oder ist weggebrochen.""Woher weißt du das alles?""Nun, ich schau' mir gelegentlich Satellitenbilder an." Yin kratzt sich verlegen am Hinterkopf. "Kann es sein, dass du Heimweh hast? Möchtest du zurück?""Ja, manchmal, aber dorthin zurück? Nein, möchte ich nicht. Da gibt es nichts mehr für mich, aber dennoch denke ich, du solltest." Yin schaut ihn fast flehend an. Xian schaut auf seine im Schoß liegende Hände. Vielleicht hat er recht, möglicherweise verschwinden dann die Träume. "Ich werde darüber nachdenken, Yin. Aber wir sollten jetzt zurück. Die Mittagspause haben wir ein wenig überzogen.""Ach, halb so wild, solange der Chef nicht meckert" und mit einem Zwinkern hakte sich Yin bei Xian unter und gemeinsam gingen sie lachend zurück zur Galerie.
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Soulmate III: Shackles of Darkness
FanfictionTräume ... Haben Träume eine Bedeutung, vor allem, wenn es immer derselbe ist? Dies fragt sich Wei Xian fast jeden Morgen, wenn er schweißgebadet erwacht. Es begann alles in der Nacht zu seinem 16. Geburtstag und das ist jetzt 14 Jahre her. _____...