Kapitel [12]

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"Ein weiterer Gang? Wie hast du ihn entdeckt?" "Als ich mir die Umgebung erneut angesehen habe, fielen mir die Unebenheiten am Fels auf und als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es keine waren, sondern ein Weg, der rund um um den Felsen verläuft. Siehst du?" Wei Ying deutete auf den schmalen Weg. Yanlou nickte bestätigend, denn jetzt aus der Nähe sah er ihn ganz deutlich. Wei Ying machte Anstalten hineinzugehen, doch Yanlou hielt ihn am Arm fest. "Warte einen Augenblick, A-Ying. Was ist, wenn wir in eine für uns gestellte Falle laufen?" "Dann sei es so", zuckte mit den Schultern, löste sich aus Yanlous Griff und betrat den Gang. Kopfschüttelnd folgte Yanlou ihm. Je weiter sie hineingingen, umso heißer wurde es. Erneut wollte Yanlou wissen, ob Wei Ying wirklich wusste, was er tat, doch bekam er darauf wieder einmal keine Antwort. So wie außen der Weg führte auch der Gang spiralförmig immer weiter in die Tiefe. Es war stockfinster. Vorsichtig tasteten sich beide an der Felswand entlang. Auch diese wurde zunehmend wärmer. Yanlou zuckte förmlich zusammen, als Wei Ying witzelte, dass die Sterblichen sich wohl so die Unterwelt vorstellen würden. Daraufhin gab er nur ein leises Grollen von sich, dass sich in diesem engen Gang viel lauter anhörte als beabsichtigt. Abrupt blieb Wei Ying stehen, woraufhin Yanlou in ihn hineinrannte. "Yanlou!" Gemeinsam lauschten sie in die Dunkelheit, doch nichts rührte sich. Erleichtert atmete Wei Ying auf, denn einen Kampf in dieser Enge zu führen, war nicht sein Plan. Wie lange sie bereits auf ihrem Weg nach unten waren, konnte keiner der beiden sagen. Es fühlte sich bereits wie eine Ewigkeit an, als sie einen schwachen, flackernden Lichtschein wahrnahmen. Dicht an der Felswand gedrängt, gingen sie weiter, bis sie das Ende des Ganges endlich erkennen konnten. Das Flackern kam von einer Fackel, die an der Wand befestigt war. Doch das Knistern, was sie hörten, kam nicht von dieser. Wei Ying wagte sich weiter vor und zuckte sofort wieder zurück in den Schatten des Ganges. "Was ist? Was hast du gesehen?" "Ich denke, ich habe gerade die Kreaturen entdeckt, die Lan Zhan verschleppt haben."  Yanlou späte neugierig selbst um die Ecke. "Was bei den 18 Höllen, wer oder was ist das?" "Ich habe keine Ahnung, solch Kreaturen habe ich bisher noch nie gesehen." Das Geräusch, von dem sie dachten, es wäre das Knistern der Fackel, war das Mahlen der Kiefer der Kreaturen, während sie an Knochen nagten. Und so wie es aussah, waren es keine Tierknochen, sondern menschliche. "Was denkst du? Kommen wir an denen unbemerkt vorbei?" "Nun, bis jetzt haben sie noch keine Notiz von uns genommen. Wir müssen es jedoch versuchen, wenn wir Lan Zhan finden wollen." Yanlou nickte zustimmend. Mit äußerster Vorsicht und die Kreaturen fest im Blick, wagten sie sich Schritt für Schritt vor. Sie hatten fast den gegenüberliegenden Gang erreicht, als eines der Kreaturen den Kopf in ihre Richtung hob und schnupperte. Wei Ying und Yanlou erstarrten augenblicklich in ihrer Bewegung, bereit für den Gegenangriff. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, die anderen zwei Kreaturen fingen an zu streiten, schnappten mit ihren großen Kiefern nach dem jeweils anderen, was den dritten ablenkte und der ebenfalls in die Streiterei einfiel. Klicker und Knurrgeräusche hallte jetzt von den Wänden wieder. Dies nutzten Wei Ying und Yanlou aus und huschten weiter. Doch der Gang entpuppte sich nur als ein etwas tieferer Durchgang. Vor ihnen erstreckte sich eine Art Gewölbe. Zu beiden Seiten konnte man Türen mit kleinen Sichtgittern sehen. "Denkst du, was ich denke?" "Ja, es ist das Verlies, wir sind hier richtig." "Kannst du ihn bereits spüren?" "Nein, hier ist zu viel grollende Energie." Wei Ying ging zur ersten Tür, doch die Zelle war leer. Ebenso alle weiteren, somit blieb nur noch eine übrig, die am Ende, genau gegenüber dem Eingang. Diese hatte keine Gitter und schien auch massiver als die anderen zu sein. Wei Ying trat näher heran und erhob seine Hand, um sich zu vergewissern, was er soeben gespürt hatte. Er sollte recht behalten, eine Barriere sicherte zusätzlich zu dem schweren Schloss die Tür. Er wollte sie gerade entfernen, als er Schritte und eine Stimme hinter sich vernahm. Wei Ying wirbelte herum, um zu sehen, wer dort eingetroffen war, doch noch war niemand zu erkennen. "Da sind ja meine Lieblinge, habt ihr genug zu fressen? Na na na, ihr sollt euch doch nicht immer streiten. Es ist genug da und für Nachschub wird gesorgt. Sobald der Fürst die Restseelen der unnützen Schatten aufsaugt, bekommt ihr wieder ein Festmahl." Wei Ying und Yanlou sahen sich entsetzt an. Es stimmte also. Wei Ying hatte so etwas bereits vermutet, doch es jetzt zu hören, erfüllte ihn mit Grauen und einer immensen Wut. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. So fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Yanlou gab ihm ein Zeichen, ruhig zu bleiben. Wei Ying nickte, holte tief Luft und entspannte seine Hände wieder. Die Schritte kamen nun näher und Wei Ying entfernte sich ein wenig von der Tür. Die Person, die mit den Kreaturen gesprochen hatte, ging ohne die beiden zu bemerken zur hinteren Tür. Als er auf gleicher Höhe wie Wei Ying war, konnte er eine vertraute Präsenz spüren, die er jedoch im Moment nicht zuordnen konnte. Auch, dass die Person zuerst eine Phiole aus seinem Gewand hervorholte, bevor die Barriere verschwand, machte ihn stutzig. Ein nur allzu wohlbekannter Geruch traf jetzt seine empfindliche Nase. "Wūshī! Er ist ein Wūshī!" "Was meinst du damit? Ich dachte, der Dämonenclan hat sie vor Äonen verbrannt.""Nun, allem Anschein nach lebt noch einer." Wei Ying schnellte vor, bevor sich die Tür wieder schloss und schlüpfte, gefolgt von Yanlou, hinein, der die Tür direkt versiegelte. Zunächst war es absolut finster in der Zelle. Man konnte nur die scharrenden Schritte des Wūshī hören. Doch da war noch ein weiteres Geräusch. Eins, das sich wie unterdrücktes Stöhnen und Röcheln anhörte. Wei Ying trat, ohne genau etwas zu sehen, näher. Ein übler Geruch wehte ihm entgegen, der fast einen Würgereiz bei ihm auslöste. Doch dann spürte er ihn. Ein gehauchtes Lan Zhan entfleuchte ihm, genau in dem Moment, als der Wūshī eine Fackel entzündete und Wei Ying ihn sah. Hätte er immer noch Blut in seinen Adern, wäre es jetzt zu Eis gefroren. Sein wunderbarer Lan Zhan hing in Ketten von der Decke. Blutig gescheuerte Handgelenke. Der Körper ausgemergelt und dieser faulige Geruch entströmte aus all seinen Poren. Wei Ying stand völlig neben sich. Jedes erdenkliche Gefühl durchströmte ihn. Erst als der Wūshī anfing zu kreischen, erwachte Wei Ying aus seiner Benommenheit und stürzte sich zornentbrannt auf ihn. Mit nur einer Hand an dessen Hals hob er ihn vom Boden auf. "Du hast gewagt, Hand an ihn zu legen? Dafür wirst du hundertfach leiden, bevor du stirbst. Yanlou, nimm ihn, bevor ich ihn zerreiße!" Wei Ying schmiss ihm den zappelnden Wūshī entgegen und war im selben Moment bei Lan Zhan, sprengte dessen Fesseln und schloss ihn fest in seine Arme. Er konnte spüren, wie die Flamme in Lan Zhan immer schwächer wurde. Tränen strömten unaufhörlich aus seinen Augen. Er sah kurz auf und nickte Yanlou zu, dann waren beide verschwunden. "Unmöglich! Das ist doch unmöglich!! Wie konntet ihr hier eindringen und warum lebt er noch?""Sei still, oder ich entferne deine Zunge, du Monster. Mir kam zu Ohren, dass du unbedingt die Unterwelt besuchen wolltest. Jetzt bekommst du die Gelegenheit." Da die Schattenwelt nicht mit der Unterwelt verbunden war, musste Yanlou den Umweg über die Welt der Sterblichen nehmen. Doch dazu musste er zuerst an den hässlichen Kreaturen vorbei. Das Gekreische des Wūshī, hatte sie bereits aufgescheucht. Fauchend kamen sie auf ihn zugerannt. Yanlou machte kurzen Prozess mit ihnen und brach ihnen mit einer Handbewegung das Genick, woraufhin der Wūshī nur noch lauter schrie. Kurzerhand schnippte Yanlou ihm leicht an die Stirn, worauf das Gezeter endlich ein Ende hatte. Mit dem nun Bewusstlosen hetzte er den Gang hinauf. Oben angekommen, sprang er zum Portal. Nach dem Durchqueren versiegelte er es, damit niemand hinein oder hinaus konnte. Nur einen Wimpernschlag später stand er mit dem leise wimmernden Wūshī in der Vorhalle. Kurz überlegte er, wohin mit ihm, als ihm seine alte Kammer einfiel. Mit einem gehässigen Grinsen zerrte er ihn hinter sich her. Kaum hatte er seinen einstigen Arbeitsbereich betreten, schleuderte er den Wūshī gegen die Wand, der daraufhin wieder gänzlich zu sich kam. Die eingebetteten Eisen schnappten bei Berührung direkt an Hals, Hand- und Fußgelenken zu. Der Wūshī versuchte sich zu befreien, scheiterte jedoch und schrie vor Zorn und dann vor Schmerz. "Je mehr du zappelst, umso enger werden die Eisen. Sie haben ein Eigenleben und lieben es, selbstständig zu foltern.""Du hast meine Lieblinge getötet. Warte, bis ich frei komme. Du wirst tausend Tode sterben.""Ja ja, immer die gleiche Leier. Ach, da fällt mir ein, was A-Ying zu mir vor ein paar Tagen gesagt hat. Möchtest du es hören? Nein? Ach, ich sag' es dir trotzdem. Kann man den Tod töten? Nein! Und was deine „Lieblinge" angeht, darüber kannst du später A-Ying und A-Zhan berichten, falls du dann noch lebst." Yanlou verließ die Kammer, ohne auf das Brüllen des Wūshī zu hören und begab sich in seinen privaten Bereich. Seine bisher gespielte Ruhe fiel von ihm ab. Er wusste, dass es nötig war so schnell zu verschwinden, dennoch machte er sich jetzt riesige Sorgen um die beiden. Nervös fuhr er sich durch die Haare, griff dabei zum nächsten Weinkrug und leerte ihn in einem Zuge. Diese Jungs! Wegen den beiden bekomm' ich eines Tages noch mal 'nen Herzinfarkt und fall tot um. Falls sie heil zurückkommen, werde ich sie an mich binden. Dann ist es aus mit Abenteurer erleben. Yanlou lief aufgebracht im Raum herum, doch nach einer Weile wurde ihm das zu dumm. Er machte sich auf den Weg in seine ureigene Bibliothek. Auch wenn er diese Kreaturen nicht kannte, hieß dies noch lange nicht, dass sie nicht doch irgendwo in alten Aufzeichnungen festgehalten worden sind. Wie lange er damit verbracht hatte, konnte Yanlou nicht genau sagen, doch als er das Letzte Buch in die Ecke schmiss, fluchte er innerlich. Verflixt, hier ist nichts. Warum hab' ich nicht eins dieser Viecher mitgenommen?! Doch das alles half ihm jetzt auch nicht weiter. Somit nahm er ein Pergament zur Hand, setzte sich an seinen Schreibplatz, nahm den Pinsel auf und tunkte ihn in die Tinte. Während er ihn über das Pergament hielt, schloss er die Augen und rief sich das Aussehen der Kreaturen in Erinnerung. Sobald das Bild klar vor seinem geistigen Auge Form angenommen hatte, zuckte der Pinsel und Yanlou ließ ihn los. Wie durch Geisterhand geführt, setzte er sich in Bewegung und erstellte eine Zeichnung von ihnen. Als diese fertig war, stoppte der Pinsel und legte sich selbstständig wieder auf seinen Halter. Yanlou öffnete die Augen. Kurz zuckte er zusammen, denn die Zeichnung war mehr als realistisch. Mit erhobener Augenbraue und einem Kopfschütteln warf Yanlou seinem Pinsel einen Seitenblick zu, worauf dieser nur leicht in seiner Halterung zappelte, so als ob er sagen wollte 'gib nicht mir die Schuld, sondern deiner blühenden Fantasie', bevor er erneut wieder still da lag. Yanlou nahm die Zeichnung auf und begab sich damit nach Youdu, der Hauptstadt der Unterwelt. Auf seinem Weg dahin überlegte er, welchen seiner Unterkönige er am ehesten fragen könnte. Nachdem er auch den letzten ohne Erfolg befragt hatte, streifte Yanlou noch eine Weile durch die Straßen. Bestaunte die Erneuerungen sowie die Erweiterungen der Stadt. Jetzt erst fiel ihm auf, wie ewig es her war, dass er Youdu einen Besuch abgestattet hatte, da er sich hauptsächlich in seinem privaten Bereich aufhielt und nur die Berichte seiner ‚Angestellten' las. Sehr wahrscheinlich war dies auch der Grund, warum ihn niemand beachtete. Ohne es bemerkt zu haben, stand er plötzlich vor seiner alten Residenz, die auf einer Anhöhe im alten Viertel stand. Erinnerungen aus einer längst vergessenen Zeit blitzen auf. Mit diesen nostalgischen Gedanken stieg er die lange Treppe hinauf. Das große schwere Tor öffnete sich automatisch und er betrat die weitläufige Halle. Hier hatte sich nichts verändert, bemerkte er, nachdem er sich umgesehen hatte. Alles war noch an seinem angestammten Platz, wie er es, nachdem er die Unterwelt neu organisiert hatte, verließ. Er stieg eine der beiden Treppe zur Empore hinauf und blickte auch dort in alle Räume. Auch hier war alles noch beim Alten, somit verließ er das Stockwerk über die Hintertreppe und kam dabei an seinem alten Arbeitszimmer vorbei. Zuerst wollte er daran vorbeilaufen, doch mitten im Schritt hielt er inne. Gebannt starrte er auf das Fresko, das um den Kamin herum gemalt war. Wie konnte mir das nur entfallen?! 

 Wie konnte mir das nur entfallen?! 

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Soulmate III: Shackles of DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt