Kapitel [5]

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Weiter, immer weiter stieg Wei Ying vor sich hin grübelnd die nun ausgetretenen Steinstufen empor. Bei jedem Schritt kam eine Erinnerung an seine Vergangenheit hier in der Cloud Recesses in ihm hoch. Wie er mit seiner Shijie und seinem Shidi hier heraufkam und somit Lan Zhan zum ersten Mal begegnete. Die Lehrstunden, die strengen Regeln, seine neu gefundenen Freunde, die Bestrafungen für seinen Unfug und den stoischen Blick seines Lan Zhans. Bei letzterem lächelte er wehmütig. Ohne es bemerkt zu haben, war er an dem geheimen Bereich angekommen, wo Lan Zhan seine Kaninchen hielt. Wei Ying blieb stehen und seufzte. Sie sind nicht mehr da, wie auch nach all den Jahrhunderten, was habe ich erwartet? Wei Ying setzte sich unter einen der Bäume, die scheinbar auch nicht mehr dieselben waren, denn in seiner Erinnerung war es ein Bambuswald, diese sahen vollkommen anders aus. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an den Stamm und dachte nach. Er wollte sich unbedingt daran erinnern, was mit ihm und Lan Zhan geschehen war. Er fühlte, dass er nicht wiedergeboren sein konnte. Dies war sein Körper und er spürte die dunkle Energie seiner Kultivierung in ihm fließen. Aber was waren das für Erinnerungen an seine Kindheit in dieser Welt? Sie waren den seinen ähnlich. Seine Eltern starben früh. Er wurde von einer anderen Familie aufgenommen und erzogen. Wann fand der Tausch statt? Wie kam er hierher? Die Träume! Sie fingen nach seinem 16. Geburtstag an, nach dem tragischen Unglück in der Kuppelstadt, bei dem er schwer verletzt wurde und lange im Koma lag. Wurde da der Tausch vollzogen? Yin war sein einziger Anhaltspunkt. Denn er erzählte ihm alles, was er aus seiner Kindheit vergessen hatte. Oder wurde nur seine Seele in diesen Körper gesperrt und erwachte, als er die Felswand berührte. Wei Yings Kopf begann langsam an zu schmerzen. Seufzend erhob er sich und ging zurück zum Pfad, um seinen Weg hinauf fortzusetzen. Als er am einstigen Tor ankam, hielt er kurz inne. Auch hier war nichts übrig, nicht einmal Steine, die die Barriere umsäumten, um die Cloud Recesses betreten zu können. Somit schritt er weiter, am damaligen Übungsplatz vorbei und stand anschließend auf dem großen Platz, von dem alle Pfade einmal abzweigten. Wei Ying atmete tief ein und aus, schloss kurz seine Augen und als er sie wieder öffnete, projizierten seine Erinnerungen all die Gebäude, die dort einst standen. Wehmütig blickte er in die Richtung, in der sich die Unterkunft von Lan Zhan befand. Ohne es richtig wahrzunehmen, bewegten sich seine Füße automatisch darauf zu. Die Bilder aus der Vergangenheit überlappten sich mit denen der Gegenwart. Da, wo einmal das Jingshi stand, nur Sand, Geröll und wenige Gräser. Selbst der Teich war nicht mehr vorhanden. Wei Ying fiel dort, wo er die Stufen vermutete, auf die Knie und krümmte sich zusammen. Sein Herz schmerzte und Tränen benässten den Sand unter ihm. Warum bin ich hergekommen? Warum musste ich mich erinnern? Nur um jetzt den Schmerz ertragen zu müssen? Lan Zhan, warum? Wei Ying war so in seinem Schmerz gefangen, dass er nicht mitbekam, wie sich ihm eine Person leise näherte. Der Aufschrei von Alice aus dem Intercom, sowie das Rasseln der sich schnell nähernden Ketten geschah innerhalb einer Sekunde. Wei Ying sprang reflexartig auf und wich mit geschickten Schritten und Sprüngen aus, näherte sich ihm flink und packte dann, immer noch die Ketten abwehrend, den Angreifer fest bei den Schultern. "Qionglin, hör auf, ich bin es, Wei Ying!" Doch der Angesprochene reagierte nicht und griff weiterhin an. Wei Ying wollte ihn nicht verletzen, wich nur aus, blockte die Angriffe und rief immer wieder dabei seinen Namen. "Ayo, das führt doch zu nichts. Alice, Li Li, kommt heraus und lenkt ihn ab."  Sofort erschienen die beiden KI neben ihm. Der Angreifer war kurz abgelenkt, setzte dann aber augenblicklich neu an und ließ seine Ketten auf Alice und Li Li einprasseln, denen diese natürlich nichts anhaben konnten. Das versetzte ihn wiederum in Rage. Wütend und mit einem lauten Grollen, stürmte er auf sie zu. Wei Ying nutzte die Gelegenheit und fing an, eine Melodie zu pfeifen. Nachdem der Angreifer mehrfach immer wieder durch die Geister gerannt war, stoppte er plötzlich in seiner Bewegung, legte seinen Kopf schief und lauschte. Vorsichtig näherte sich Wei Ying ihm immer noch pfeifend. "Master Wei, nicht! Das ist zu gefährlich!" Doch Wei Ying schüttelte nur seinen Kopf, hob beschwichtigend seine Hände und ging in alle Ruhe weiter auf die Person zu, bis er direkt vor ihm stand. "Qionglin, erkennst du mich jetzt? Ich bin es, Wei Ying." Der Angesprochene sah ihn verwirrt an, schwenkte seinen Kopf zur anderen Seite. Die zuvor tiefschwarzen Augen klärten sich. "W-Wei Shàoyé?" Wei Ying lächelte Wen Ning an und zog ihn dann ohne Vorwarnung einfach in seine Arme. "Ja, Qionglin, ich bin es wirklich, bei den Himmeln, du lebst noch." Wen Ning versteifte sich in den Armen von Wei Ying, doch dieser bemerkte es nicht einmal. Die Freude seinen alten Freund zu sehen überwältigte ihn und ließen Tränen über seine Wangen herabfließen. Nach einer Weile ließ er den verdatterten Wen Ning los und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. "Qionglin, wie siehst du wieder aus?! Vollkommen zerzaust." Vorsichtig hob Wen Ning seine Hand und wischte eine Träne von Wei Yings Gesicht. "W-warum weint ihr, W-Wei Shàoyé? Seid ihr t-traurig?" Wei Ying schüttelte den Kopf und trocknete sein Gesicht mit dem Ärmel. "Nein, Qionglin, ich bin glücklich, einfach nur glücklich, dich zu sehen." Beide zuckten zusammen, als Alice sich zu Wort meldete. "Master Wei? Sie kennen diese Gestalt?" Wen Ning stellte sich direkt schützend vor Wei Ying, jederzeit bereit, die Geister anzugreifen. "Ayo, Alice, bitte erschrick Qionglin nicht, ich denke, er hält euch für böse Geister und ja ich kenne ihn. Darf ich vorstellen. Wen Ning, Höflichkeitsname Qionglin. Wen Ning, das sind meine guten Geister, Alice und Li Li." Wen Ning entspannte sich ein wenig, ließ die beiden jedoch nicht aus den Augen. Alice hingegen sah Wei Ying fragend an. "Hallo Qionglin, ich darf dich doch so nennen? Ich bin Li Li, der gute Chopter Geist, ich beschütze auch Master Wei." Li Li winkte Wen Ning freudig zu, was Alice nun sie verwundert ansehen ließ. Doch diese zuckte nur mit den Schultern. "Was denn? Du hast doch gehört, was Master Wei gesagt hat. Wir sind seine guten Geister, stimmt doch auch mehr oder weniger, oder?!""Ähm, ja, hallo Master Wen, ich bin Alice." Wei Ying gab einen grunzenden Laut von sich und musste sich, ob der steifen Begrüßung von Alice schwer zusammen nehmen, um nicht laut loszulachen. Das wiederum ließ ihn von Alice einen wütenden und missbilligenden Blick erhalten. Verlegen kratzte sich Wei Ying am Nacken. "Ähm, ich denke, ich benötige euch fürs Erste nicht, ihr könnt wieder zurückgehen" und zeigte dabei auf sein Handgelenk. Alice verschwand postwendend, wobei Li Li noch einmal Wen Ning zuwinkte und sich dann auch auflöste. Wen Ning sah äußerst verwirrt aus, doch Wei Ying klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. "Wie ist es dir all die Jahre ergangen, Qionglin? Warst du die ganze Zeit über hier in der Cloud Recesses? Hast du alles, was hier geschehen ist, miterlebt? Bitte, kannst du mir erzählen, was mit Lan Zhan passiert ist?" Wen Ning sah Wei Ying verwirrt an, bevor er langsam antwortete. "W-Wei Shàoyé, i-ich weiß nicht, w-wie könnt ihr leben? A-Yuan, A-Ling und ich haben euch b-begraben." Nun war es Wei Ying, der Wen Ning verwirrt ansah. Erneut huschten diverse Erinnerungen durch seinen Kopf. Ja, er war einmal gestorben, jedoch wusste er auch, dass er nicht begraben wurde, da man seine Leiche nie fand. Ihm wurde schwindelig, taumelte und wäre fast gefallen, hätte Wen Ning nicht nach ihm gegriffen, um ihn zu stützen. Seine Gedanken fingen wie ein Karussell an zu kreiseln. Er atmete ein paar mal tief durch, um sich zu sammeln. "Warum? Wie bin ich gestorben? Was war mit Lan Zhan?" Wen Ning deutete ihn sich zu setzen und nachdem sich beide niedergelassen hatte, fing er an zu erzählen. Wei Ying hörte ihm aufmerksam zu und wurde bei jedem Wort immer blasser, bis er sein Gesicht in seinen Händen verbarg und seine aufkommenden Tränen freien Lauf ließ. Also wurde ich doch wiedergeboren. Lan Zhan ist fort, aber warum kann ich mich nicht daran erinnern, mit ihm gemeinsam alt geworden zu sein? Ein gemeinsames, langes Leben geführt zu haben? Warum erinnere ich mich nicht an seinen Tod? Wieder flammten neue Bilder in ihm auf. Jedoch überlappten sie sich mehrfach. Wei Ying sah verschiedene Leben, die jedoch nie gleich ausgingen. Er erblickte eine goldene Treppe. Gesichter, die fremd, aber auch seltsam vertraut waren. Einen Pfirsichhain, indem er und Lan Zhan herumalberten und einen streng dreinblickenden Mann, der sie tadelte, nicht immer für Unruhe zu sorgen. Was hat das alles zu bedeuten? Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, öffnete er seine Augen, erhob seinen Blick und erstarrte. Was ist jetzt wieder geschehen? Wo ist Wen Ning? Wo bin ich hier? Was ist das für ein Ort? Seine Umgebung hatte sich verändert. Wei Ying saß allein in einem kargen Wald. Verwelkte Blätter, die an Pfirsichblüten erinnerten, lagen um ihn herum. Ich kenne diesen Ort, ich war bereits einmal hier, aber warum ist jetzt alles verdorrt? Wei Ying stand langsam auf und sah sich um. Nein, nicht nur verdorrt, es ist teilweise verbrannt. Was ist hier bloß geschehen?  Sich weiter umsehend, wanderte Wei Ying durch die zerstörte Gegend, bis er an einem Graben ankam. Vorsichtig näherte er sich ihm, um festzustellen, dass es sich um eine tiefe Schlucht handelte. Er spürte die grollende Energie, die daraus hervorquoll. Warum ist hier solch starke, grollende Energie? Wer wurde hier grauenhaft getötet? Instinktiv griff er an seine Seite, doch an seinem Gürtel befand sich nicht wie gewohnt seine Flöte und als er an sich heruntersah, kam ihm die Kleidung, die er trug, seltsam fremd vor. Der stechende Schmerz, der ihn kurz darauf in seinem Kopf traf, ließ ihn taumeln und die Augen schließen. "W-Wei Shàoyé, geht es euch gut?" Hände ergriffen seine Schultern und schüttelten Wei Ying leicht. Er riss seine Augen auf und sah in das besorgte Gesicht von Wen Ning. Er schüttelte leicht seinen Kopf, so als könnte er dadurch seine Gedanken ordnen. "W-was ist mit e-euch geschehen? W-wo wart ihr, W-Wei Shàoyé?""Qionglin? Was meinst du damit? War ich nicht die ganze Zeit hier?""N-nein, ihr wart auf einmal v-verschwunden." Wei Ying sah ihn verwirrt an, doch dann erinnerte er sich an den zerstörten Ort. War ich wirklich dort? Er hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als sich die Umgebung veränderte und er wieder in dem verdorrten Wald stand. Was geschieht hier nur? Was geschieht mit mir? Erneut wurde ihm schwindelig und Bilder blitzten unaufhörlich vor seinen Augen auf, als sich wiederum die Umgebung veränderte und er von starken Armen aufgefangen wurde. "A-Ying, Junge, wusste ich doch, dass eine mir bekannte Präsenz im Pfirsichhain auftauchte. Zum Glück konnte ich dich dieses Mal ergreifen, hier, trink das, dann geht es dir besser." Wei Ying wehrte sich gegen die starken Arme, die ihn eisern festhielten, doch vergeblich. Ihm wurde schwarz vor Augen und bevor er gänzlich das Bewusstsein verlor, spürte er etwas Feuchtes an seinen Lippen.

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"Wangan, mein Sohn, hattest du Erfolg? Konntest du es finden?" Der Angesprochene fiel auf die Knie, beugte sein Haupt und antwortete, ohne aufzusehen. "Verzeiht mir Fùqīn, dort, wo es vermutet wurde, befand sich das Objekt nicht, aber seid unbesorgt, ich werde es finden." Jeder im Raum zuckte zusammen, als der Fürst wütend aufsprang und dabei den Tisch vor sich durch die Halle schleuderte. Wangan konnte gerade noch ausweichen, indem er sich nach vorn beugte und seine Stirn auf die Steinfliesen traf. Alle weiteren Anwesenden taten es ihm gleich und wagten es nicht ihren tobenden Fürsten anzusehen, der nach seinem Säbel gegriffen hatte und die ihm am nächsten stehenden Wachen damit köpfte. Wangan fühlte den Lufthauch, als der Säbel kurz vor seinem Kopf in den Boden gerammt wurde. Innerlich zitternd verharrte er in seiner Position und wartete darauf, dass der Fürst ihn erneut ansprach. Niemand wagte es, sich zu rühren, um nicht die Aufmerksamkeit ihres aufgebrachten Fürsten zu bekommen. Nach einer Weile verstummte das Geschrei sowie die Geräusche des zerschlagenden Inventars. Wangan spürte den stechenden Blick, der nun auf ihn gerichtet wurde. "Geh mir aus den Augen und komm erst wieder, wenn du Erfolg hattest!" Schnell erhob sich Wangan und eilte ohne aufzusehen rückwärts aus der Halle. Erst als sich das schwere Tor schloss, wagte er es, sich aufzurichten. Wangan atmete ein paar mal tief durch, um sich zu beruhigen, setzte dann wieder sein übliches stoisches Gesicht auf und verließ den Palast.

 Wangan atmete ein paar mal tief durch, um sich zu beruhigen, setzte dann wieder sein übliches stoisches Gesicht auf und verließ den Palast

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