Der Bus ist fast leer, was für diese Zeit nicht ungewöhnlich ist. Also habe ich einen Sitzplatz, wo ich auch mein Rad im Auge behalten kann. Ich lehne meinen Kopf gegen die Fensterscheibe, gegen die nach wie vor der Regen prasselt. Ich würde mich ja auf Zuhause freuen, auf eine Mutter oder einen Vater, eine Schwester oder einen Bruder, der mich willkommen heißen würde, in die Arme schließen und sagen, dass alles wieder gut wird. Aber ich habe das nicht. Nicht mal einen Freund oder eine Freundin, die ich anrufen könnte.
Meine Augen fangen an zu brennen. Ich versuche meine Tränen zurück zu halten. Eine Träne kullert aus meinem Auge. Ich wische sie schnell weg.
Heulst du grade echt, weil ein Typ, den du nicht mal richtig kennst, dir gesagt hat, dass er nichts mehr mit dir zu tun haben will? Seit wann bist du so eine Pussy geworden? Reis dich zusammen. Du hast es bis jetzt immer alleine geschafft. Wieso sollte sich das jetzt plötzlich ändern?
Ich antworte mir nicht. Wieso auch? Es hat mich noch nie zum Schweigen gebracht.
Nach einer halben Ewigkeit hält der Bus in der Nähe meiner Wohnung. Ich steige aus. Der Regen ist weniger geworden, aber nicht ganz weg. Ich bin zu erschöpft, um wieder Fahrrad zu fahren, weshalb ich es schiebe.
Nachdem ich mein Rad in den Fahrradschuppen gebracht habe, und nach oben zu meiner Wohnung gelaufen bin, schäle ich mich aus meinen komplett durchnässten Klamotten, hänge sie zum Trocknen über die Heizung. Mir ist kalt und ich fange an zu zittern.
Schnell gehe ich ins Badezimmer und stelle mich unter die warme Dusche. Das heiße Wasser lässt meine eiskalten Knochen, Muskeln und Adern langsam auftauen. Ich stöhne leise auf, als wieder Gefühl den Weg zurück in meinen Körper findet. Ich bleibe noch viel länger als nötig in der Dusche sitzen und lasse das Wasser weiterhin auf meinen Körper prasseln. Gibt es etwas Schöneres als eine warme Dusche nach einem kalten und anstrengenden Tag?
Ja. Leute zu haben, die dich lieben.
Ich ignoriere die Stimme wieder und versuche weiterhin die Wärme des Wassers zu genießen. Es klappt ganz gut.
Ich weiß nicht, wie lange ich unter dem Wasserstrahl gesessen habe, aber meine Finger sind schrumpelig. Und ich kann nicht sagen, ob es wegen dem Wasser kommt, oder weil ich mich einfach Jahrzehnte lang nicht bewegt habe und nun ein alter Opa bin. Wobei ersteres sehr viel plausibler klingt.
Langsam verlasse ich die Dusche, wickle mir ein großes Handtuch um den Körper und rubble mich trocken. Das Handtuch saugt die Nässe auf und ich lasse mich auf den Badezimmerboden sinken. Mir wird langsam kalt, weshalb ich beschließe mir etwas anzuziehen und aus dem nassen Handtuch raus zu kommen.
Ich entscheide mich für einen großen, dicken Pulli, eine weite Jogginghose, Wollsocken und einen leichten Schal. Um meine Haare wickle ich ein kleines Handtuch, damit sie schneller trocknen, und damit mein Kopf nicht abkühlt.
Anschließend koche ich mir einen Tee und hülle mich in meine weiche Daunendecke. Mit der warmen Tasse in den Händen und der Decke um mich geschlungen sitze ich nun da und wärme mich, langsam aber sicher, wieder auf.
Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich aufwache ist es hell. Ich schaue auf meine Uhr. 08:21 Uhr. Ich springe auf.
Fuck. Fuck. Fuck.
Schule. Es ist seit 21 Minuten Schule. Und ich bin grade aufgewacht. Ohne mich zu duschen ziehe ich mich an, nehme meine Tasche, ohne zu überprüfen, ob ich alle Schulsachen für heute eingepackt habe, renne die Treppe hinunter, hole mein Fahrrad aus dem Schuppen und fahre, so schnell ich kann los.
An der Schule angekommen, es ist 8:39 Uhr, renne durch die Schulflure zu meinem Matheraum.
Ich klopfe an die Tür, entschuldige mich für die Verspätung und setze mich auf meinen Platz.
Als ich da so sitze, alleine an meinem Tisch, kommen mir wieder die Ereignisse von Gestern Abend in den Kopf, die ich durch die Hektik total vergessen habe, und ich kann nicht verhindern, wie sich mein Magen zusammenzieht.
Meine Gedanken kreisen, kehren immer wieder zu Nate zurück. Schlagen mir Erklärungen für das gestern passierte vor, lehnen sie wieder ab. Kreisen weiter, geben mir die Schuld.
Ich stütze meinen Kopf auf meinen Armen auf. Nach der Stunde will der Lehrer, dessen Name mir nicht einfallen will, mit mir sprechen.
"Mika, wieso bist du zu spät gekommen?", fragt er streng.
"Ich habe vergessen mir einen Wecker zu stellen, weil es mir gestern Abend nicht sonderlich gut ging.", ich sage die Wahrheit, weil ich zu erschöpft bin mir etwas anderes auszudenken. Zwar wäre es möglicherweise sinnvoll gewesen, aber mein Kopf ist nicht in der Lage eine Notfalllüge zu erfinden.
"Bitte sorgen Sie dafür, dass das nicht häufiger passiert, sonst muss ich anfangen mir die Verspätungen zu notieren und mit dem Direktor zu sprechen."
Ich nicke, entschuldige mich mehrfach und verlasse den Raum, da der Lehrer keine Anstalten macht noch etwas zu sagen, sondern nur nachdenklich seinen Schnäuzer zwirbelt.
Ich kehre zu meinem Klavierraum zurück, vergewissre mich, dass keine Lehrkraft sieht, wie ich den Raum betrete. Ich lasse mich auf den Klavierhocker sinken, lasse den Deckel des Klaviers aber unten, damit ich meinen Kopf ablegen kann. So sitze ich eine Weile dort und folge meinen Gedanken. Stelle mir ein Gespräch vor, zwischen mir und Nate, dass sicherlich niemals geschehen wird: Er entschuldigt sich bei mir für das Geschehene. Ich erkläre ihm, dass ich ihn verstehen kann und will mich abwenden. Doch er hält mich an meinem Ärmel zurück, umarmt mich und sagt, dass er die Nachrichten, die er mir geschrieben hat, zurücknimmt und es nicht vergessen möchte, weil ich ihm wichtig bin.
Ich lache mich innerlich aus. Ich bleibe liegen und schließe die Augen. Ich merke nicht wie sich die Tür öffnet und eine Person den Raum betritt, bis ihre Stimme erklingt: "Ist alles okey Mika?"
Ich erschrecke mich und drehe mich Kia zu.
"Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.", entschuldigt sie sich.
"Alles gut.", ich lächle sie müde an. Ich glaube sie sieht, dass es nicht echt ist. Sie sagt aber nichts, wofür ich mehr als dankbar bin. Ich habe keine Lust einer fast Fremden meine Gefühlswelt erklären zu müssen. Aber sie anzulügen wäre auch nicht optimal, immerhin mag ich sie gerne.
Ich rücke auf dem Klavierhocker ein Stück, so dass ich nur noch halb da sitze und biete Kia den freigewordenen halben Hocker an. Sie setzt sich. Und so verbringen wir die Pause schweigend, nebeneinander sitzend, halb aneinander gelehnt.
Manchmal kommt es nicht auf die Worte an, die gewechselt werden. Manchmal kommt es nur darauf an nicht allein sein zu müssen. Manchmal braucht man nicht reden um füreinander da zu sein. Manchmal reicht es eine schweigende Gesellschaft zu haben.
Zumindest für mich reicht das. Und ich bin sehr dankbar dafür, dankbar nicht alleine zu sein.
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Diese verregneten Tage
RomanceMika ist 17 Jahre alt und erwartet von seinem Leben nicht besonders viel. Aufgrund von Geld- und anderen zahlreichen Problemen wechselt er erneut die Schule, doch Hoffnung auf Besserung hat er nicht. Wieso auch? Entgegen seiner Erwartung ändert sich...