Zweimal sterben

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Zuhause angekommen setze ich mich an meinen Tisch vor meine Mathesachen, die Kia und ich nach dem Lernen nicht weggeräumt haben

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Zuhause angekommen setze ich mich an meinen Tisch vor meine Mathesachen, die Kia und ich nach dem Lernen nicht weggeräumt haben. Auch die richtige Buchseite ist noch aufgeschlagen. Ich seufze. Das Schlimmste ist, dass ich mich wirklich gerne auf Mathe konzentrieren möchte, aber es nicht kann. Aus zwei Gründen. Der erste Grund ist der Film. Ich habe Angst, dass ein alter, blinder Mann plötzlich meine Wohnung betritt und mich ermordet. Und der zweite Grund fängt mit 'N' an und hört mit 'ate' auf. Wieso muss alles immer so unglaublich kompliziert sein?

Ich hatte schon abgeschlossen. Also so halb zumindest. Okey... ich war so weit, dass ich akzeptiert habe, dass ich niemals erneut etwas mit ihm haben werde. Und jetzt? Alles weg. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und reibe meine Augen so fest gegen meine Fäuste, dass ich für ein paar Augenblicke nichts mehr sehen kann. Ich blinzle bis ich wieder mehr erkenne.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist spät. Eigentlich Zeit fürs Bett, aber ich könnte sowieso nicht schlafen. Also bleibe ich sitzen. Vor meinem Mathebuch und Kias Notizen, die ich mir, seitdem ich vom Kino zurück bin, kein einziges Mal mehr angesehen habe. Ich beiße in meinen Arm um einen Schrei zu unterdrücken. Ich lege meinen Kopf auf die kalte Tischplatte. Ich trockne meine schweißnassen Hände an meinem Pullover ab.

Ich atme tief durch, versuche mich zu beruhigen. Und dann passiert es. Ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll, aber ich fange an meine Haut wahrzunehmen. Spüre quasi wie jede Pore arbeitet, spüre die Bakterien, die über meine Haut kriechen, nehme jede Stelle wahr, an der meine Haut Stoff berührt. Mein ganzer Körper kribbelt, juckt, brennt und am liebsten würde ich sie abstreichen, abkratzen, abziehen.

Mein Körper wird heiß und ich fange an zu zittern, meine Muskeln verkrampfen und das Atmen wird schwer. Die Lichter um mich herum werden heller, durchdringender, ätzen meine Augen weg, verbrennen meine Haut. Ich schließe die Augen. Ich merke wie sich an meinem ganzen Körper Gänsehaut bildet und wie sich die kleinen Härchen auf meinen Armen und im Nacken aufstellen.

Ich höre alles viel lauter doch gleichzeitig als wäre es kilometerweit entfernt. Die Uhr tickt. Der Wind pfeift. Mein Atem geht langsam und unregelmäßig. Mein Herzschlag wird schneller und schneller. Ich merke wie Schweiß aus den Poren tritt und meinen Körper hinunterrinnt. Kalt und heiß. Mein Kopf beginnt zu jucken, als hätte ich Läuse. Nur stärker. Zwischen meinen geschlossenen Lidern quellen Tränen hervor. Ich möchte nach Hilfe schreien, aber meine Stimmenbänder funktionieren nicht und ich schreie lautlos.

Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich denke, dass ich jetzt sterben werde und absolut nichts dagegen machen kann. Und es ist auch das erste Mal in meinem Leben, dass es mir nicht egal oder sogar lieber ist, wenn ich sterbe. Und es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass mein Leben grade so okey ist, und dass ich leben will. Und genau das ist die Ironie dahinter. Eine fassungslose Verzweiflung überkommt mich. Zieht mich nach unten und ertränkt mich. Ich will weiterleben. Aber ich werde sterben. Wenigstens kann ich sagen, zum Ende meines Lebens war ich okey. Ich habe mehr erreicht als ich gedacht hatte. Ich bin okey.

Und dann kippe ich vom Stuhl. Ich merke wie mein Körper schwer wird und mich nach unten zeiht. Ich merke, wie ich noch versuche meine Arme zu benutzen um mich abzufangen. Ich merke, dass meine Muskeln zu angespannt sind, als dass ich sie bewegen kann. Und ich merke wie ich aufpralle. Dann merke ich nichts mehr. Und ich mag dieses Nichts.

piep piep piep piep piep piep piep

Das ist das erste was ich wahrnehme. Ein monotones, durchdringendes, hässliches Piepen. Dann grelles, weißes Licht. Als würde man direkt in die Sonne schauen, nur stärker. Ein seltsam vertrauter und gleichzeitig abstoßender Geruch. Eine harte Matratze. Eine angenehme Frische. Ein schmerzender Körper, der nur meiner sein kann. Und dann die Gewissheit, dass ich lebe.

Und piep piep piep piep piep piep piep.

Ein Windzug durch das Öffnen einer Tür. Dann eine hohe, schrille Frauenstimme: "Sie sind wach. Wie geht es Ihnen?"

Ich versuche meine Augen zu öffnen, aber meine Lider sind zu schwer. Ich versuche etwas zu sagen, aber mein Mund ist zu trocken.

"Wollen Sie Wasser?", fragt die Frau. Ich nicke und es kommt mir vor, als wäre das der maximale körperliche Aufwand, den ich bewältigen könnte. Ich fühle mich, als wäre ich von einem Lastwagen überfahren worden. Und die Überreste meines Körpers wären wieder zusammengeklebt worden. Einige Momente später wird mir eine Art Strohhalm zwischen meine Lippen geschoben. Ich schlucke das Wasser mit gierigen Schlucken. Spüre wie es meinen trockenen Hals hinunterläuft.

piep piep piep piep piep piep piep

Das Geräusch macht mich wahnsinnig. Ich will meine Ohren zuhalten. Aber ich kann meine Arme nicht heben. Sie sind zu schwer. Ich stöhne.

piep piep piep piep piep piep piep

Und dann ist mein Körper wider meiner. Ich schlage meine Augen auf und blicke in grelle LED Lampen über meinem Kopf. Meine Augen versuchen sich an die durchdringende Helligkeit zu gewöhnen, aber es fühlt sich an als würden meine Augen weggeätzt werden.

piep piep piep piep piep piep piep

Mit jedem piep wird es lauter. Ich setze mich auf. Schläuche stecken in meinem Arm. Ich schreie. Springe auf. Meine Beine sind wackelig. Mit einer Hand halte ich mich an der Wand fest. Mit der anderen versuche ich die Schläuche aus meinem Arm zu reißen.

piep piep piep piep piep piep piep

Meine Sicht wird schwarz. Und dann merke ich wie die Schläuche nachgeben. Genau wie meine Beine. Ich spüre wie eine warme Substanz aus meinem Arm läuft. Ich höre wie sie zu Boden tropft.

piep piep piep piep piep piep piep

Unterbrochen vom Tropfen meines eigenen Blutes. Und die aufgebrachte Stimme der Krankenschwester. Dann Schritte.

piep piep piep piep piep piep piep

Und mit jedem Mal wird es leiser. Und ich bin mir sicher, dass ich sterbe. Zum zweiten Mal. Und dieses Mal bin ich einverstanden. Bis ich plötzlich nichts mehr spüre. Und ich mag dieses Nichts.

Ich falle. Ich falle einen Tunnel hinunter. Vielleicht ist es eine Art Brunnen in die ich falle. Doch die Wände haben Lücken, aus denen sich mir schneeweiße Hände entgegenrecken. Dürre Finger mit langen Fingernägeln, die mir die Haut von den Knochen kratzen. Die Hände verwesen. Genau wie ich.

Und dann wird mir klar, dass das kein Brunnen ist sondern ein Grab, mein Grab, in das ich hineingelegt werde.


Diese verregneten TageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt