Prolog

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Der Autounfall meines Bruders war der erste Dominostein in einer Reihe, der alle anderen Steine zu Fall brachte. Eine Woche nach Pauls verheerendem Unfall, es war gleichzeitig der Beginn der Herbstferien, lag ein Brief im Briefkasten.

Es dauerte eine Weile, bis ich ihn entdeckte, zeitgleich war nämlich auch Post vom Krankenhaus und der Krankenversicherung gekommen. Als ich das Logo des Krankenhauses sah, hielt ich die Luft an und beachtete die anderen Briefe nicht. Erst als meine Mutter den Brief geöffnet und kurz überflogen hatte, atmete ich erleichtert auf. Die Versicherung würde für alle Kosten aufkommen. Wenigstens darüber konnten wir uns ein wenig freuen. Auch nach einer Woche war es noch nicht sicher, wie es mit Paul weitergehen würde. Die Operation machte ihm zu schaffen und er fürchtete, dass er das Bein nie wieder richtig bewegen würden können. Der Arzt hatte Physiotherapie und Reha vorgeschlagen.

Zwischen all den Sorgen, Hoffnungen und unterdrückten Schmerzen, entdeckte ich den Brief erst am nächsten Abend. Es war ein weißer unscheinbarer Umschlag. Keine Briefmarke war darauf geklebt. Er musste ihn also selbst eingeworfen haben. Der einzige Hinweis, von wem der Brief sein könnte, ergab sich aus der schwungvollen Schrift, mit der mein Name auf das weiße Papier geschrieben wurde. Ich hatte seine Schrift öfter im Unterricht gesehen und mich gewundert, wie jemand so schön schreiben konnte. Im Gegensatz zu meiner Schrift war seine Schrift ein wahres Geschenk des Himmels.

Nun bereitete sie mir allerdings dröhnende Kopfschmerzen. Ich wollte seine Erklärungen von wegen, er habe das alles nicht so gemeint und er habe nur wegen mir so gehandelt, nicht hören. Das waren alles bloße Floskeln. Ich hatte das Video gesehen und unser kurzes Gespräch auf dem Schulhof war mir auch zwei Wochen später noch sehr deutlich im Gedächtnis. Das allein reichte mir. Er musste es nicht noch schlimmer machen.

Alles, was er jetzt sagen könnte, wäre nur eine Ausrede gewesen. Ein jämmerlicher Versuch, das zu retten, was schon längst zu Bruch gegangen war. Der Schaden war angerichtet und er war irreparabel. Mein Bruder lag nun seit einer Woche im Krankenhaus. Seit dem Video staute sich eine enorme Wut in ihm, die jeden Tag ein bisschen größer wurde und die er am liebsten an seinen Teamkollegen auslassen hätte. Um diesen Plan in die Tat umzusetzen, musste er jedoch erst einmal wieder auf die Beine kommen. Das, was er jetzt brauchte, war viel Ruhe. Er durfte das Bein ohnehin nicht bewegen, was seinen Alltag nicht gerade leichter machte. Die Ausbildung pausierte, weil er außer der Berufsschule nicht bei den Aktivitäten der Firma teilnehmen konnte. Dafür müsste er erst wieder richtig gesund werden. Doch wie jeder in unserer Familie, konnte er einfach nicht abwarten.

Der Wille schnell wieder auf die Beine zu kommen, entsprang auch der Sorge darüber, dass ihm der Ausbildungsplatz vielleicht gestrichen werden könnte, je länger er fernblieb, auch wenn er absolut nichts dafür konnte. Meine Mutter und ich versuchten ihn zu beruhigen, doch erst als sein Chef persönlich vorbeikam und mit ihm sprach, wurde er entspannter.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, den Brief überhaupt nicht aufzumachen, sondern ihn einfach in Stücke zu zerreißen und in den Mülleimer zu werfen, aber in mir machte sich sofort ein schlechtes Gewissen breit.

Ich musste beinahe über mich selbst lachen. Nach allem, was passiert war, war ich diejenige, die ein schlechtes Gewissen bekam. Hätte es nicht andersherum sein sollen? Ich konnte den Brief einfach nicht wegschmeißen. Vielleicht war es mein Wille, an das Gute im Menschen zu glauben, der mich dazu brachte, ihm eine letzte Chance zu geben. Er hatte sich immerhin die Mühe gemacht, den Brief zu verfassen. Der Gedanke daran, dass er sich wohlmöglich spät abends in eine Ecke gesetzt und all seine Gedanken auf ein Stück Papier niedergeschrieben hatte, ließ mein Inneres warm werden. Diese verdammten Schmetterlinge.

Mit einer schnellen Bewegung hatte ich den Briefumschlag aufgerissen und zog ein halb zerknülltes Papier hervor. Offenbar hatte er es öfter in den Händen gehalten und dabei zu fest zugepackt. Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker. Was würde jetzt auf mich zukommen? Nach einer gefühlten Ewigkeit fasste ich mir endlich ein Herz.

Ich las sein Geständnis.

Katara - Bound To Trust (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt