10 | Das mit der Hydra

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Mom war gerührt zu sehen, wie sehr ich meinen Bruder vermisst hatte. Sie war sogar so ergriffen, dass sie selbst die ein oder andere Träne verdrückte, während ich Paul fest umklammert hielt.

„Warum bist du denn schon hier?" Pauls Schultern bebten vor Lachen und ich schlang meine Arme fester um ihn.

Sie hatten das alles geplant. Paul hätte eigentlich nicht vor Sonntag zurückkommen sollen. So hatte es Mom mir jedenfalls berichtet. Dabei hatten sie diese Überraschung lange vorbereitet. Paul hatte eine lange und anstrengende Reise hinter sich. Er war mit dem Zug gekommen und hatte zweimal umsteigen müssen. Mit Krücken und Koffer kein leichtes Unterfangen, aber offenbar hatte es am Bahnhof ein paar nette Menschen gegeben, die ihm gerne geholfen hatten.

„Und Mom hat mich vor einer Stunde am Bahnhof abgeholt. Wir haben schon befürchtet, dass du schon zuhause bist und die Überraschung ins Wasser fällt. Aber das war ja zum Glück nicht so. Wie war der Wandertag?" Ich löste mich nur widerwillig aus der Umarmung und musste meine Stimme erst einmal wiederfinden. Mom kam mir zuvor.

„Meine Schätze. Jetzt sind wir wieder alle zusammen. Hach... kommt her." Dann drückte sie uns fest an sich, mich mit verheultem Gesicht und Paul, der auf einem Bein hüpfte und ein schiefes Grinsen aufgesetzt hatte, das mich jedoch nicht ganz überzeugte. Es wirkte zu aufgesetzt. Mom fiel seine gezwungene Miene durch ihren eigenen Tränenschleier nicht auf.

„Ich brauche wirklich eine Tasse Tee. Meine Nerven machen das nicht mit.", sagte sie zittrig und ging in die Küche. Kurz darauf erklang bereits das Rattern des Wasserkochers. Paul drückte mich ein Stück an den Schultern zurück und betrachtete mich inspizierend. Ich wischte mir mit dem Pullover über die feuchten Wangen.

Sofort änderte sich der Ausdruck auf Pauls Gesicht. Seine Pupillen weiteten sich.

„Wie geht es dir?", fragte er gedämpft und ließ mich dabei keine Sekunde aus den Augen. Seine Frage zielte ganz klar auf Aiden und die Wette ab. Sofort schnellte mein Herzschlag wieder in die Höhe und schnürte mir die Luft zum Atmen ab. Ich hörte Mom in der Küche zu irgendeinem Lied aus dem Radio fröhlich summen.

„Möchtet ihr auch Tee, meine Spätze?", rief sie über den Wasserkocher hinweg. Ich verneinte. So sehr ich Tee liebte, so sehr wollte ich mich in mein Zimmer verkriechen und über das Geschehene nachdenken. Besonders über diesen einen Moment zwischen Aiden und mir im Labyrinth. Es hatte sich alles so merkwürdig normal und gleichzeitig so unnormal fremd angefühlt. Ich wusste das Gefühl nicht einzuordnen.

„Für mich auch keinen Tee.", lehnte auch mein Bruder das Angebot ab.

Er erkannte, dass es keine gute Idee war, mitten im Flur miteinander zu sprechen, wo doch Mom direkt nebenan war und jedes Wort verstehen konnte, wenn sie genau hinhörte. Er nickte Richtung Wohnzimmer.

„Komm." Er fischte die Krücken vom Boden auf und stakste ins Wohnzimmer. Die Krücken kratzten über den Boden. Ich dackelte mit schwerem Herzen hinterher. Ich hatte ihn vermisst, doch ich hatte gehofft, dass er mich nicht sofort mit seinen Fragen über die letzten Wochen überfallen würde. Ich hatte gehofft, dass die Schonfrist noch länger anhalten würde.

Paul ließ sich mit lautem Aufatmen auf den einzigen Sessel fallen. Das Bein legte er auf einen kleinen Hocker, den jemand (wahrscheinlich Mom) mit ein paar Kissen ausgepolstert hatte. Er nahm seine Augen keine Sekunde von mir. Zögernd ließ ich mich auf dem Sofa nieder.

„Wie geht es dir?", stellte ich ihm eine Gegenfrage, ohne auf seine Frage einzugehen und schielte auf die Krücken, die er neben sich auf dem Boden abgelegt hatte. Er strich über sein Bein und bewegte den Fuß vorsichtig. Er verzog das Gesicht.

Katara - Bound To Trust (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt