16 | Das mit den fünf Phasen

105 13 24
                                    

Ich rang mit mir selbst. Ich konnte mit fast niemandem über das Erlebte reden, da es mich im Grunde genommen auch gar nichts anging. Eva vertraute ich zwar voll und ganz, aber wenn überhaupt sollte sie von Emma erfahren, wie es ihrer Familie momentan ging. Lucy kannte Emma nur flüchtig und sie würde den Ernst der Situation wahrscheinlich mit einer einfachen Handbewegung abtun.

Es war nur natürlich, dass ich mich damit an meine Mutter wandte. Es war merkwürdig. Sie bemerkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich musste besser schauspielern können, als ich dachte. Den Schock über Emmas Geheimnis konnte ich offenbar nicht so leicht verbergen wie meinen Liebeskummer. Als Mom mein Gesicht sah, legte sie sofort den Kochlöffel beiseite und legte mir eine Hand auf die Stirn.

„Katara, ist alles in Ordnung?"

Nein. Nichts war in Ordnung. Erst Aiden, dann Paul und Großmutter Adelaide und jetzt auch noch Emma. Alles in meiner Nähe schien in letzter Zeit den Bach herunterzugehen. Ich konnte weder für das eine noch für das andere etwas, aber Emmas Geheimnis hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Wie viel Stress konnte ein Mensch auf sich aufladen, bevor er daran zerbrach? Ich hatte bislang alles mit mir selbst ausgemacht und mit hoher Wahrscheinlichkeit war genau das der Fehler. Menschen waren nicht dazu gemacht, immer allein zu sein und alles für sich zu behalten. Geteiltes Leid, halbes Leid. Ich schätzte, an dem Sprichwort war doch etwas Wahres dran.

„Fühlst du dich nicht gut?"

Ich schüttelte den Kopf, biss mir auf Lippe, wollte stark sein und schon kullerten die Tränen.

Mom hörte mir einfach zu. Sie stellte keine Fragen und unterbrach mich nicht. Ich erwartete auch keine Lösung, denn es gab ohnehin nichts, was ich hätte tun können, außer für Emma da zu sein. Ich war froh, dass meine Mutter mir beistand.

„Soll ich nochmal mit ihr reden? Ihr meine Hilfe anbieten? Vielleicht gibt es eine Möglichkeit ihr zu helfen. Ich weiß nicht, was ich tun soll..."

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Mom griff nach ihrer Teetasse und ließ sich damit Zeit, über die Frage nachzudenken.

„Vielleicht solltest du ihr Zeit geben zu überlegen. Dass sie es dir nicht erzählt hat, hat bestimmt seine Gründe."

„Aber sie arbeitet Tag und Nacht, um genug Geld zu verdienen. Auch Nachtschichten. Und wenn sie eigentlich in der Schule sein sollte. Vor einer Woche war das noch nicht so."

Genauer gesagt seit dem Wandertag. Irgendetwas musste also geschehen sein. Seit einer Woche lief im Leben meiner besten Freundin etwas schief und ich hatte es erst jetzt bemerkt. Ich hätte gleich stutzig werden sollen, als sie sich krankgemeldet und tagelang nicht gemeldet hatte. Mom schwieg und ich fuhr fort.

„Emma ist die beste unseres Jahrgangs. Sie war nie krank. Nicht einen Tag in ihrem Leben. Morgens ist sie die erste, die die Schule betritt und abends ist sie die letzte die geht. Und sie liebt die Schule. Sie liebt es zu lernen. Selbst das Mensaessen isst sie jedes Mal auf. Manchmal sogar meine Portion. Ihr darf es einfach nicht schlecht gehen."

Ich zählte all die Gründe auf, warum ich eine schlechte Freundin war. Warum hätte sie den ganzen Tag in der Schule verbringen sollen, wenn sie die Hausaufgaben genauso gut zuhause erledigen könnte? Das Mensaessen war, bis auf die Pommes, ungenießbar. Aß Emma ihren Teller nur auf, weil sie befürchtete, bei ihr zuhause nichts zu bekommen? Lag es daran? Hätte es mir nicht früher auffallen müssen, dass ihr etwas auf dem Herzen lag? Wäre ich nur früher bei ihr zuhause gewesen und hätte ihre Mutter getroffen. Ich hätte ihr früher helfen können. Ich wäre für sie dagewesen und sie säße jetzt nicht in diesem dunklen Loch fest. Und ich - auch wenn dieser Gedanke egoistisch war – hätte deswegen kein schlechtes Gewissen.

Als Mom uns zum Abendessen rief, bekam ich keinen einzigen Bissen hinunter. Großmutter Adelaide amüsierte sich prächtig, weil meine Haut für ihren Geschmack etwas zu blass aussah und sich meine Haare zu einem ungleichmäßigen Vogelnest deformiert hatten – so oft hatte ich mir die Haare gerauft. Wie so oft ignorierte ich ihre Tirade. So wie auch Paul und Mom ihre Worte an sich abprallen ließen. Ich dachte ununterbrochen an Emma.

Für mich fühlte es sich so an, als hätte ich einen wichtigen Menschen in meinem Leben verloren. Hatte ich nicht vor kurzem erst einen Artikel gelesen, der sich genau damit auseinandergesetzt hatte? Die fünf Phasen der Trauer. Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz.

Ich konnte und wollte einfach nicht wahrhaben, dass Emmas Leben so sehr an mir vorbei gegangen war. Vielleicht hatte ich sie auch nur in einem ungünstigen Moment erwischt und Emmas Mutter war keine Alkoholikerin. Eine halbleere Flasche Vodka. Was sagte das schon aus? Rein gar nichts. Das versuchte ich mir einzureden. Vergeblich. Ich wurde wütend.

Wer hatte Emma das angetan? Der lieben, kleinen, süßen Emma, die ihre Haare in der fünften Klasse jeden Tag mit verschiedenfarbigen Bändern zusammengebunden hatte. Die liebenswürdigste Person auf der Welt, die selbst dann noch lächeln würde, wenn sich eine hungrige Python um sie schlang, um ihr ihr Leben aus dem kleinen zierlichen Körper zu pressen. Sie hatte es nicht verdient. Wer hatte das schon? Wenn es eine Möglichkeit gäbe, ihr Schicksal zu verändern, würde ich es ohne zu zögern tun. Ich verspürte eine ungemeine Wut auf ihre Mutter, die sich besser um ihre Tochter hätte kümmern müssen. Sollte sie sich nicht wünschen, dass Emma zur Schule ging? Dass sie studierte oder eine Ausbildung machte und glücklich war? Stattdessen verdammte sie sie zu diesem Leben. Ihre Worte „Du wirst auch so enden wie ich" machten mich stinksauer. Und was war das für eine Vereinbarung, von der sie gesprochen hatte? „Wenn du dich nicht an unsere Vereinbarung hältst, werde ich davon erfahren". Meine Hand krallte sich automatisch in den Stoff meines Pullovers. Wie konnte sie so mit ihrer Tochter umspringen? Und natürlich war ich auch wütend auf mich selbst. Was bin ich für eine Freundin, die nicht merkt, welche Last ihre beste Freundin tagtäglich mit sich trägt?

Ich konnte ihr helfen. Das wusste ich mit Sicherheit. Ich würde eine bessere Freundin sein und ihr unter die Arme greifen. Ich könnte mir einen Teilzeitjob suchen und ihr das Geld geben. Damit würde sich vielleicht eine ihrer Sorgen in Luft auflösen. Oder zumindest verkleinern. Andererseits würde sie das Geld niemals annehmen. Sie kannte mich zu gut und würde prompt ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie glaubte, mir etwas schuldig zu sein. Selbst, wenn ich ihr versichern würde, dass sie mir rein gar nichts schuldig war. Ich könnte ihr anbieten ihrer Nachbarin beim Einkaufen zu helfen. Hatte sie nicht gesagt, dass Emma ihr normalerweise half? Vielleicht brauchte sie auch Hilfe im Haushalt. Ich könnte mich dort nützlich machen und Emma entlasten. Vorausgesetzt, dass sie meine Hilfe auch annehmen würde. Mein Schädel brummte. Nun war ich diejenige, die Kopfschmerzen hatte.

Ich seufzte und ließ den Kopf ungeachtet des empörten Aufschreis Großmutter Adelaides („Da sind doch überall Krümel!") auf den Tisch knallen. Was machte ich mir überhaupt vor? Was, um Himmels Willen, konnte ein gerade 18-jähriges Mädchen schon anrichten? Ich konnte ihr nicht helfen. Ich war unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Mom ahnte, was ihn mir vorging und legte eine Hand auf meine Schulter. Es war eine kleine Geste, doch die Wärme, die von ihrer Hand ausströmte, ließ mich traurig lächeln. Ich war nicht allein. Ich hatte immer noch meine Familie, mit der ich reden konnte. Meine Mutter würde mir immer helfen. Auch Paul und selbst Grand-mère Adelaide. Ob Emma dieses Gefühl in letzter Zeit auch verspürt hatte? Das Gefühl bedingungslos geliebt und akzeptiert zu werden? Oder kämpfte sie einen Kampf, den sie allein nicht gewinnen konnte? Emma war eine Kämpferin. Nach sieben gemeinsamen Jahren in der Schule wusste ich das mittlerweile. Doch manche Kämpfe waren nicht dazu gemacht, sie allein durchzustehen. Gerade in den Momenten, in denen man sich am stärksten fühlte, brauchte man jemanden, der einen auffing, wenn man stolperte und drohte auf dem harten Boden der Realität aufzukommen.

Es war so, wie es war. Damit musste ich nun zurechtkommen. Ich konnte nichts anderes tun, als abzuwarten und zu hoffen, Emma würde ihren Stolz überwinden und meine Hilfe akzeptieren.

Katara - Bound To Trust (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt