44 ~ Leb wohl...

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Die Lippen zu einem sanften Lächeln verzogen, ließ sich Aleria von Luan näher an seinen Körper heranziehen, doch kurz bevor er sie küsste, stieß sie einen spitzen Schrei aus und zuckte zurück. Weil sie, erleichtert und überglücklich, alles um sich herum vergessen hatte, hatte sie mit der Wange eine der Gitterstäbe berührt und sich die Haut verletzt. Alarmiert ruhte Luans Blick auf ihr und zum ersten Mal nahm Aleria wahr, wer noch mit ihm in ihr trostloses Gefängnis gekommen war.

„Mutter, Matteo?", fragte sie irritiert. Darauf bedacht, dass tückische Eisen nicht zu berühren, nahm sie Luans Hand und seufzte innerlich vor Wonne.

„Schau nicht so Herrin, schließlich kann ich das Bordell nicht ewig alleine führen", sagte der Verwalter und zwinkerte ihr verschmitzt zu. Matteo zwischen ihren Geschwistern, ihrer Mutter und Luan zu sehen, war für Aleria so verwirrend, dass sie nichts sagen konnte.

Stattdessen trat Elena vor und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. „Was ist mit den Gittern Amra, dass du davor zurückgeschreckt bist?"

„Sie sind mit heiligen Siegeln versehen", antwortete sie düster und deutete mit einem Kopfnicken zu den silbernen Schnallen.

„Keine Sorge, du kommst gleich hier raus", sagte Luan und drückte aufmunternd ihre Hand. Und obwohl es Aleria vollkommen irrational und unmöglich erschien, ging es ihr durch seine Worte und seine Berührungen tatsächlich besser.

Während sich die Furien, Enrico und Matteo daran machten, den Schlüssel für ihre Zelle in der dämmrigen Kammer zu suchen, trat Lilith näher an ihr Gefängnis heran und betrachtete die Siegel an den Gittern mit nachdenklichem Blick.

„Dieser miese, kleine...", zischte sie vor sich hin und legte den Kopf in den Nacken. Die Worte, die sie dann mit wütender Stimme ausstieß, fühlten sich in Alerias Ohren wie Widerhaken an. Eilig ließ sie Luans Hand los und presste sich die Handflächen auf die Ohren – ebenso wie ihre Halbgeschwister.

Erst als Lilith ihren Mund wieder geschlossen hatte, wagte sie es, die Arme sinken zu lassen.

„Was hast du da gerade gemacht?", fragte Sara verstört.

„Tut mir leid Kinder, ich hätte euch vorwarnen müssen." Lilith zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: „Nun, ich kann euch nun nur bitten, die Augen abzuwenden." Noch bevor ihre Worte verklungen waren, bildete sich mitten im Raum ein Bogen aus Licht, der rasch heller wurde. Aber je strahlender er leuchtete, desto schmerzhafter war es für Aleria ihn zu betrachten und sie trat in Luans Schatten, um davor sicher zu sein.

Für einige Sekunden war die unterirdische Kammer erfüllt von diesem gleißenden Licht, ehe es plötzlich verschwand und eine Stille herrschte, als hätte der Herr persönlich allem Leben verboten, auch nur einen kleinen Laut von sich zu geben. Langsam spähte Aleria um ihren Geliebten herum und konnte ihren Augen nicht trauen.

„Das glaube ich nicht", murmelte Martha nur wenige Meter von ihr entfernt und wich einen Schritt zurück. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Matteo sich bekreuzigte und ihr kam der sarkastische Gedanke, dass das auch nicht helfen würde.

Denn aus dem Licht war eine Gestalt geboren worden, die Aleria das letzte Mal vor etlichen tausend Jahren gesehen hatte und davon ausgegangen war, sie auch nie wieder zu sehen. Gekleidet in rote Seide, die dunkel wie Blut wirkte, stand ein blonder Mann dort. Ein flammendes Schwert hing an seiner Hüfte und setzte ihn doch nicht in Brand.

„Michael Araboth", flüsterte sie, schwankend zwischen Furcht und Wut.

Der Blick seiner blauen Augen wirkte kalt und berechnend, als er Aleria betrachtete. Obwohl sie sich immer noch halb hinter Luan befand, fühlte sie sich allein und diesem Wesen vollkommen ausgeliefert. Denn hinter seinen Schultern schillerten blütenweiße Schwingen, die ihn unmissverständlich als das kennzeichnete, was er war: Ein Engel.

Aleria  ~ Liliths Kinder (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt