5 ~ Der Priester

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'Warum vergehen diese Tage immer so schnell?'

Dieser Gedanke kreiste in Alerias Kopf umher, während sie auf der anderen Flussseite der Stadt entlang spazierte. Der Petersdom war nicht weit und noch vor wenigen Minuten hatten die Glocken zur achten Stunde des Abends geläutet. Langsam senkte sich die Nacht über die Ewige Stadt, aber Aleria verspürte nicht das Bedürfnis, nach Hause zu gehen.

Sie fühlte den warmen Wind nicht mehr auf ihrem Gesicht, konnte das Aroma der blühenden Pflanzen nicht mehr genießen und auch das kleine Abendessen hatte nach nichts geschmeckt. In diesen Momenten, wenn das Stück der gestohlenen Seele sie wieder verließ, verfluchte Aleria ihr Dasein am meisten. Aller schönen Empfindungen beraubt war sie oft übellaunig, gereizt und konnte keine Minute stillsitzen. In Venedig hatte der Anblick des Meeres sie beruhigt und hier in Rom würde sie hoffentlich am Ufer des Flusses dieselbe Ruhe finden.

Obwohl sie sich sicher war, dass der junge Soldat sie auch ein zweites Mal in sein Schlafzimmer lassen würde, konnte sie darauf nicht zurückgreifen. Es war nicht ungefährlich, sich mit einer Lilim nach so kurzer Zeit wieder einzulassen. Den Menschen schadete es im Allgemeinen nicht, denn der Teil der Seele, die Wesen wie Aleria ihnen stahlen, war verschwindend klein, dennoch war es eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Denn keines von Liliths Kindern wollte die Strafe erhalten, die auf den Tod eines Menschen folgte.

Gänsehaut breitete sich auf Alerias Armen aus und sie zog den Schal fester um ihre Schultern. Sie versuchte, sich willentlich davon abzuhalten, über die Brandnarbe an ihrem Nacken zu reiben, die bei diesen Gedanken unangenehm kribbelte. Im Moment war sie nah dran Neid zu empfinden, sogar grün zu werden vor Neid. Ein tiefes Seufzen löste sich aus ihrer Brust und sie lehnte sich an die Mauer, die den Tiber in sein Flussbett einsperrte.

Ein Vogelschwarm erhob sich hektisch in die Luft und veranlasste Aleria, hinter sich zu blicken. Die Straße war leer, bis auf einen Mann in dunkler Kleidung wenige Meter von ihr entfernt. Der komplett schwarze Soutane und das silberne Kreuz auf seiner Brust kennzeichneten ihn als Priester der Kirche, wahrscheinlich auf dem Heimweg von einer der vielen Kirchen in der Stadt.

Aleria lächelte ihn an und rechnete, dass er weitergehen würde, doch das tat er nicht. Stattdessen stand er noch immer dort an der Mauer, als wäre er festgewachsen, und starrte sie unverhohlen an. Irritiert runzelte Aleria die Stirn und wollte schon fragen, ob sie etwas auf der Nase hatte und zuckte zusammen, als der Geistliche plötzlich anklagend mit einem Arm auf sie zeigte.

„Luzifer!", rief er mit tiefer Stimme. Sekunden später griff er in eine Tasche seines Gewands, förderte ein kleines Fläschchen zu Tage und schleuderte es Aleria entgegen. Klirrend zerbrach es an ihrer Brust und übersäte sie mit Wasser und kleinen Glassplittern. Zu perplex, um angemessen reagieren zu können, sah sie auf ihr nasses Kleid und dann zu dem Priester zurück.

„Weiche von mir böser Dämon."

~

Es glich der Stimmung in einer Bibliothek: Ruhig, konzentriert und dennoch spannungsgeladen. Gelegentliches Hüsteln war von jenseits der hohen Regale zu hören, die sich unter den vielen Dokumenten zu biegen begannen. Der Geruch von altem Papier und Leder lag in der Luft, die im Gegensatz zu den Temperaturen draußen angenehm kühl war.

Konzentriert schrieb Luan den Bericht, überprüfte einige Zahlen und vervollständigte die Listen. Die Wochen des Müßiggangs waren vorbei, seit das Konklave zu einem Ergebnis gekommen war. Sämtliche Arbeitskräfte hatten wieder genaue Anweisungen erhalten und der Ausnahmezustand war beendet, in dem sich der Klerus befunden hatte – und Luan war froh darum. Über einhundertzwanzig Tage war alles in diesen Mauern im Schneckentempo abgelaufen, was ihn beinah wahnsinnig gemacht hatte.

Aleria  ~ Liliths Kinder (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt