45 ~ Erwachen nach langem Schlaf

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24. August, Samstagmorgen
272 Jahre später

'Endlich.'

Ihre Handtasche locker in der Armbeuge stieg sie in das Taxi und nannte in perfektem Italienisch ihren Zielort. 

„Ma sì", murrte der Fahrer und sie ignorierte den unwilligen Unterton in seinen Worten. Ihr war bewusst, dass selbst um halb zehn morgens der Verkehr in dieser Region der Stadt höllisch war, doch das war ihr egal. Sie war zwar einige Zeit nicht mehr ihr gewesen, aber warum sollte es hier anders sein als in anderen Großstädten dieser Welt?

Schweigend saß sie auf dem Rücksitz und betrachtete die Landschaft, die rasend schnell an ihr vorbeizog – offensichtlich hatte es der Fahrer eilig sie loszuwerden.

'Kann ich ihm nicht verdenken', dachte sie und fuhr sich durch ihr langes Haar. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass sie nicht wie ein gerupftes Huhn aussah, nachdem sie nach gefühlten zwei Tagen aus dem Flugzeug gestiegen war.

In Vancouver war es jetzt – sie sah auf ihre Armbanduhr – erst halb eins in der Nacht. Aber ihre innere Uhr war so aus dem Gleichgewicht, dass es sie nicht interessierte.

'Außerdem brauche ich ohnehin kaum Schlaf.' Eigentlich sollte sie traurig sein oder zumindest Bedauern empfinden, Kanada verlassen zu haben. In den letzten zwei Jahrhunderten hatte sie das Land gut kennen gelernt und hatte eine Art Kälte empfunden, als sie ihre Wohnung in Vancouver aufgegeben hatte.

'Aber das ist es wert', dachte sie entschlossen. Mittlerweile hatten sie den Stadtrand von Rom erreicht und ihr wurde flau im Magen. Sie hatte so lange, so endlos lange auf diesen Tag gewartet, doch nun fürchtete sie sich auf einmal davor, an diesen Ort zurückzukehren. Ob ihr Haus wohl noch stand? Oder das Bordell? Wie mochte es Matteo und den Frauen ergangen sein?

Vehement schüttelte sie den Kopf und verbannte diese quälenden Gedanken aus ihrem Kopf. Lilim konnten verrückt werden, wenn sie nicht wussten, wann sie vergessen mussten – und ihr Gehirn war voll mit Erinnerungen und Informationen, die sie lieber heute als morgen streichen würde.

Draußen wurde der Verkehr immer dichter und die Klimaanlage des Taxis hatte Mühe, gegen die drückende Hitze von außen anzukämpfen.

'Heute wird es noch ein Gewitter geben', dachte sie und sah zum Himmel empor. Noch waren die Wolken weiß und sahen wie flauschige Wattebällchen aus, doch das würde sich noch ändern. Man konnte sagen, dass sie es im Gespür hatte.

Doch als sie den Blick wieder zur Erde senkte, wurden all die Gefühle, die sie in diesem Moment beherrschten – was ohnehin wenige waren – von einem einzigen verdrängt: Furcht. Gepaart mit Abscheu sah sie zu der rotbraunen Mauer, über der die Kuppel der großen Basilika aufragte.

„Vatikanstaat", murmelte sie leise. Den Blick, den der Taxifahrer ihr im Rückspiegel zuwarf, ignorierte sie.

Ein Schauer überlief sie, als sie daran vorbeifuhren und kurz darauf vor der Piazza Adriana anhielten. Ohne einen Blick auf den Taxameter zu werfen, drückte sie dem Fahrer einen fünfzig Euroschein in die Hand und stieg aus. Nur am Rand nahm sie wahr, dass er ihr keine Beschimpfungen hinterherschrie und schloss daraus, dass sie ihm genug bezahlt hatte.

Ihr Blick klebte viel mehr auf der Festungsanlage, die sich nur wenige hundert Meter vor ihr in den Himmel erhob. Unschlüssig blieb sie im Schatten einiger Bäume stehen und blickte zu dem Bauwerk hinüber. Etliche Menschen gingen an ihr vorbei, meist junge Paare oder Eltern mit ihren Kindern – Touristen mit Kameras. Der irre Gedanke, dass sie sich hervorragend als Stadtführerin verdingen konnte, huschte durch das Chaos in ihrem Kopf.

Aleria  ~ Liliths Kinder (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt