42 ~ Geistesblitz

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„Sie sind ein guter Mann."

Ruckartig hob Luan den Kopf und starrte Lilith an, die am Türrahmen lehnte und ihn ruhig ansah. Betont langsam schloss er die letzten Knöpfe, um sich wieder zu fangen. Er war derart in Gedanken gewesen, dass er die Frau nicht hatte kommen hören.

Er als sein Herzschlag wieder langsamer war, fragte er: „Wie kommen Sie darauf?"

Missbilligend verzog sie das Gesicht und trat in den Raum hinein. „Oh bitte Luan, sag Lilith zu mir. Sonst komme ich mir so alt vor."

„Nun gut, Lilith", erwiderte Luan und konnte nicht verhindern, dass er lächeln musste. Langsam fand er Geschmack am Humor dieser Unsterblichen und fand es faszinierend, dass sie ihn sich über die Jahrtausende bewahrt hatten.

Lilith blieb dicht vor ihm stehen und begann, seinen Hemdaufschlag glatt zu streichen. Die Geste erinnerte Luan so sehr an seine eigene Mutter, dass er von einer Welle aus Sehnsucht und Schmerz überrollt wurde.

„Ich weiß, dass du den wahren Namen meiner Tochter kennst und dass sie dich in ihr Haus gelassen hat." Als er nur verwirrt die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: „Amra ist wohl eines meiner wenigen Kinder, die Prinzipien hat."

Lilith hob den Blick und sah ihn aus ihren hellen Augen so intensiv an, dass Luan das Gefühl hatte, sie konnte direkt in seine Seele blicken. „Meines Wissens hat sie noch nie einem sterblichen Mann so nah an sich heran gelassen wie dich."

'Ich habe noch nie, wirklich niemals einem Mann erlaubt, mit mir in meinem eigenen Bett zu schlafen.' Luan meinte Alerias Worte so deutlich in seinem Kopf zu hören, als hätte sie direkt neben ihm gestanden und sie gesprochen.

„Missfällt dir das?", fragte er geradeheraus. Dieser Gedanke hatte ihn schon seit dem Moment beschäftigt, als sie am gestrigen Tag das Esszimmer betreten hatte. Bisher hatte er keine Gelegenheit gehabt, sie danach zu fragen, denn sie waren alle beschäftigt gewesen. Matteo, der Verwalter von Alerias Bordell, war vorbei gekommen und hatte ihnen berichtet. Laut seiner Aussage waren in den letzten sieben Tagen keine weiteren Frauen misshandelt oder tot aufgefunden worden. Luan war bei diesen Worten kalt geworden.

'Sicher, der Mistkerl ist auch mit Aleria beschäftigt.'

Lilith lachte leise vor sich hin und holte ihn in die Gegenwart zurück. „Ich bin zwar ihre Mutter, aber vorschreiben kann ich Amra nichts. Dennoch..." Sie musterte ihn von oben bis unten, ganz so, als würde sie Ware auf einem Markt prüfen. „Ich muss sagen, sie hat eine gute Wahl getroffen."

Luan konnte nicht anders, machte eine knappe Verbeugung und grinste breit. „Ich fühle mich geschmeichelt."

Auf einen Schlag wurde Lilith Gesicht so todernst, dass Luan unweigerlich zusammenzuckte und sich schnell wieder aufrichtete. „Er wird sich dagegen sträuben, euch eine gemeinsame Zukunft zu gewähren." Ihm war sofort klar, wenn sie mit Er meinte – Gott, den Herrn im Himmel. Aber noch bevor er fragen konnte, was sie mit diesem Satz meinte, klopfte sie ihm auf die Schulter und gab ihm einen kleinen Schups in Richtung Tür.

„Trödel nicht länger, sonst kommst du zu spät zu deiner Audienz." Energisch schickte sie ihn die Treppe hinunter, verabschiedete ihn zusammen mit der Haushälterin an der Haustür und schon stand er draußen auf der Straße im Sonnenschein. Er brauchte noch einige Augenblicke, ehe er sich gefangen hatte und den Weg zum Vatikan einschlug.

'Diese Frau ist unheimlich', dachte er und dennoch verspürte er Zuneigung und Respekt ihr gegenüber. Lilith war ein rätselhaftes Wesen und er würde sie zu gern über ihr Leben ausfragen. Stimmte es wirklich und sie hatte sich nicht Gott, sondern nur Adam widersetzt? War es dann gerecht von Gott gewesen, sie wegen ihrer Meinung und ihrer Grundsätze aus dem Paradies zu vertreiben?

Aleria  ~ Liliths Kinder (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt