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Nachdem sie die Tür geschlossen hat, sucht sie die Speisekammer des Hauses.
Seit Tagen hat sie nichts mehr gegessen.
Ihre Mutter wollte ihnen etwas suchen. So lange sind sie gelaufen, ohne auch nur etwas im Magen zu haben. Linea konnte nicht mehr und ihre Mutter ist mit dem Versprechen gegangen ihnen etwas zu bringen.
Es ist das letzte Mal gewesen, dass sie einander gesehen haben.

Linea läuft durch den Wohnraum, in dem ein altes zerfleddertes Sofa steht, das seine besten Tage bereits hinter sich hat. Hinein in ein Raum mit einer Waschschale und zig Wassereimern. Hinüber in einen anderen Raum mit Kamin und einem Herd. Bis zu einer angrenzenden Tür.
Sie weiß genau, was sich dahinter verbirgt.
Sie reißt die Tür auf und betritt eine längliche Kammer. An der linken und rechten Seite ziehen sich Regale vom Boden bis zur Decke. Frontal ihr gegenüber befindet sich ein schmales Fenster, durch das Mondlicht fällt und alles in der Kammer sichtbar werden lässt.

Zu ihrer Linken stehen auf ihrer Höhe Einmachgläser mit Gemüse: Kohl, Rüben und Bohnen.
Darunter stehen auf dem Boden volle Kartoffel- und Roggensäcke.
Zu ihrer Rechten liegen mächtige Käsestücke und Brotlaibe. Von den Regalen hängen getrocknete Fleischstücke herab.

Sie greift nach einem Einmachglas, nach Brot, Käse und Fleisch. Mit vollen Armen verlässt sie die Kammer und breitet alles auf dem Tisch im Wohnraum aus. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen und beißt genüsslich vom Brot ab, direkt danach vom Käse. Mit vollem Mund öffnet sie das Einmachglas und fischt mit ihren Fingern Rübenstücke und Kohlblätter heraus. Sie kann gar nicht schnell genug schlucken, da füllt sie ihren Mund mit neuen Leckereien.
Laut schmatzend sieht sie sich um, bis sie auf einer Anrichte eine Karaffe entdeckt.
Sie steht auf, schiebt sich während des Gehens ein Stück Fleisch in den Mund und greift nach ihr.
Ohne Umwege über einen Krug setzt sie die Öffnung an ihre Lippen und kippt den Inhalt in ihren Rachen. Gierig schluckt sie den süßen Wein.

"Du hast gut gelebt und doch warst du nur ein einfacher Bauer", stellt Linea fest, als sie die Karaffe absetzt.
Als würde der alte Mann ihr antworten wollen, schnarcht er genau in diesem Moment laut und dröhnend.
"Du hast Recht. Das ist wirklich ungerecht."
Mit der Karaffe im der Hand, setzt sie sich wieder an den Tisch.
Schlemmend lauscht sie dem Lied aus der Kehle des Mannes.

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Nervös betrachtet Linea den Dolch in ihrer Hand.

Jetzt oder nie, denkt sie sich, wobei sie letzteres bevorzugen würde. Allein der Gedanke an das, was sie gleich tun wird, lässt Übelkeit in ihr hochsteigen. Doch sie hat keine Wahl, außer sie akzeptiert, dass sie von nun an alleine auf der Welt sein wird. Diese Vorstellung ist jedoch noch schlimmer, als alles was sie nun tun wird und noch muss.

Linea betrachtet die Klinge. Schimmernd fängt sie das Licht der Kerzen ein und wirft dessen Spiegelung auf die alten Dielen. Der Griff ist ein wunderschön gewundener, in den kleine Rosenblüten eingearbeitet wurden. Beste Handwerkskunst, hat ihre Mutter gesagt, als sie ihn ihr übergeben hat.

Linea geht zum Spiegel, besieht ihr Erscheinungsbild vorläufig zum letzten Mal. Ein Gesicht mit blauen Augen und dunklen Augenringen, das zur Hälfte im Schatten liegt, sieht ihr entgegen. Ihr Dutt hängt mittlerweile lose ihren Hinterkopf hinab. Die meisten Haarsträhnen haben sich gelöst.

Linea blickt auf die Wasseroberfläche in der Waschschale, die in Höhe in Bauchs auf einem Hocker steht.
Sie taucht ihre Fingerspitzen hinein,
bewegt sie leicht und erzeugt so kleine Wellen.
Sie stellt sich vor, dass dies der Ozean sei und sie die Macht besäße zu bestimmen, ob der Wellengang sacht oder gewaltig ist.
Schiffen eine gute Fahrt ermöglicht oder sie untergehen zu lassen.
Gedankenverloren schnippst sie ins Wasser.
Das erste Schiff geht unter, versinkt bis zum Grund des Meeres.
Ob ihre Fahrt so enden würde?
Sie muss erstmal zum Hafen kommen, es auf ein Schiff schaffen und erst dann kann sie dieses elendige Land hinter sich lassen.

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