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Linea sieht zu Iljana, die neben ihr an dem längst erloschenen Feuer sitzt. Die dicken braunen Äste, die sie gestern angezündet haben, sind nicht mehr als eingefallene schwarze Haufen. Das Feuer hatte ihnen alles genommen, ihre Stärke, ihre Konturen sowie ihr Leben. Es bleibt nicht mehr als feiner Staub, der sich in alle Himmelsrichtungen verteilen könnte.

Verbrannten die Menschen daher die Überreste ihrer Lieben?

Eine Frage, die sich Linea immer wieder gestellt hat, wenn sie sich mit ihrer Großmutter und Mutter an einem Ort niederließen. Der Tod eines Menschen wurde zelebriert, wie die Hochzeit von zwei Liebenden.
Man versammelte sich, teilweise kamen Menschen in die Dörfer, die Linea zuvor noch nie sah und das obwohl sie es teilweise schafften monatelang an einem Ort zu verweilen, ehe sie wieder flohen.
Die Menschen trugen festliche Kleidung in dunklen Tönen, es gab Reden und am Ende ein Festmahl.
Obwohl derjenige, weswegen dieser ganze Aufruhr gemacht wurde, davon gar nichts mitbekam, er nur noch Staub war.

Linea sieht zu Iljana, die genauso nachdenklich auf die Feuerstelle blickt, wie sie es eben tat.

Was ihr wohl durch den Kopf geht?

Eine Frage, die sich Linea nie beantworten kann, denn sie wird sie sicherlich nicht fragen. Die Gedanken waren das Einzige, was sich immer und zu jeder Zeit verstecken ließ. Außer... Man begegnete einen Crow. Dann werden selbst die leisesten und geheimnisvollsten Gedanken offengelegt. Die Praktiken, die sie dafür verwenden, jagen Linea heute noch einen Schauder über den Rücken. Ihre Großmutter erzählte davon ein jedes Mal, wenn Linea sich weigerte zu Bett zu gehen. Im zarten Alter von sechs Jahren wollte sie lieber die Welt entdecken. Sie begriff damals noch nicht, dass diese ein dunkler Ort ist, doch ihre Großmutter erinnerte sie häufig mit ihren Mahnungen daran. Zu häufig, wenn Linea genau darüber nachdenkt.
Denn so wurde ihr nach und nach ein Stück Lebensfreude genommen, dass sie nicht mehr wiederfinden konnte.

Iljana blickt auf und lächelt, so als hätte sie Lineas Blick bemerkt.
"Ich habe eben nachgedacht, ob diese Insel alles ist, was ich noch vom Leben zu erwarten habe", sagt sie, als hätte sie Lineas Gedanken gelesen. "Versteh mich nicht falsch, das klingt undankbar und ich bin für alles, was ich hier fand mehr als dankbar, werde es immer sein, doch ich frage mich..." Sie hält inne und sieht auf ihre Fingernägel, betrachtet sie eingehend, "Ob das alles ist", fügt sie hinzu, ohne aufzublicken.
Linea setzt an etwas zu erwidern, doch Iljana redet weiter, sodass sie ihren Mund wieder schließt und einfach zuhört.

"Ich verstecke mich hier schon lange vor der Welt. Habe mir hier etwas aufgebaut. Es hilft mir, aber nicht uns." Iljana sieht auf, ein ernster Blick schlägt Linea entgegen.
"Du willst mit deiner Mutter die Doves vereinen und dadurch etwas ändern."
Es ist keine Frage, daher antwortet Linea auch nicht. Stumm erwidert sie Iljanas Blick.
"Ich habe einen Entschluss getroffen", spricht sie weiter, "Ich werde mich hier nicht mehr verstecken. Sobald die Zeit reif ist, werde ich an eurer Seite stehen. Bis dahin schickst du jede Dove, die deinen Weg kreuzt und die sich unserer Sache anschließen möchte zu dieser Insel. Hier können wir uns versammeln und auf den richtigen Zeitpunkt für den nächsten Schritt warten."

"Ihr habt selbst bereits einen Plan geschmiedet", stellt Linea anerkennend fest.
Iljana nickt, "Als du mit der Farbe des Feindes hier ankamst. Du hast dich ausgeliefert, ohne nicht Mal zu wissen welche Konsequenzen das haben kann."
Linea knirscht mit den Zähnen. Das hatte sie.
"Nur aus der Liebe zu deiner Mutter. Allein das sagt mir, dass die Dunkelheit von dir nicht Besitz ergreifen wird und dein Mut hat mich beeindruckt."

Eher Unwissenheit.

"Es hat mich zum Nachdenken gebracht und zu dem Entschluss, dass ich so nicht weiter machen kann. Auf deiner Reise kann ich dich nicht unterstützen, doch ich helfe dir weitere Doves zu finden."

"Wirklich?", fragt Linea überraschter, als sie es gewollt hat. Iljana nickt.
"Ich weiß von Zweien, doch dies liegt noch in weiter Ferne. Solltest du deine Mutter gerettet haben, kommt hier her und ich sage dir, wo du eine von ihnen findest."
Skeptisch zieht Linea ihre Augenbrauen zusammen, "Warum nicht jetzt?"

Iljana steht auf und lächelt, "Weil ich nicht bereit bin alles aufzugeben, wenn die Chance gering ist."
Mit diesen Worten verlässt sie stolzen Schrittes die Höhle. Und mit anderen Worten heißt das, wenn Iljana nicht weiß, dass Linea es geschafft ihre Mutter zu finden, wird sie nichts unternehmen.

Sprachlos blickt Linea ihr nach und spürt ein Fünkchen Zorn. Sie sieht nun mit eigenen Augen, warum die Doves fast ausgelöscht sind. Es muss immer einer den ersten Stein werfen, damit ein anderer einen zweiten wirft.

Auch Linea erhebt sich, folgt Iljana. Raus aus der Höhle, rein in den Tunnel und vorbei an der erleuchteten Wandmalerei bis sie Iljanas Rücken sieht. Sie lehnt an der Wand, betrachtet die Pflanzen, die in den Eingang hineinwuchern.
Linea geht langsam auf sie zu und jeder Schritt hinterlässt ein dumpfes Geräusch. Sie streckt die Hand nach ihrer Schulter aus, hält einen Moment inne, atmet noch einmal tief ein und berührt sie.

Iljana dreht sich nicht um. Spürt lediglich die warme Hand auf ihrer Haut und einen kurzen Moment spürt sie etwas wie Scham.

"Danke", haucht Linea in der Stille des Tunnels und spürt mit jeder Faser ihres Körpers wie ernst sie dieses Wort meint. Sie ist Iljana für vieles dankbar, auch für Dinge, auf die Iljana keinen Einfluss hat. Eine andere Dove zu treffen hat Linea Mut gegeben, das Gespräch hat Wissen gegeben und ihr Angebot der Hilfe eine Chance.
Sie kann nicht verlangen, dass Iljana ihr so hilft wie sie es gerne hätte. Immerhin hat Iljana etwas zu verlieren. Linea hingegen hat bereits alles verloren. Das ist nicht vergleichbar und das ist ihr klar geworden, als sie erneut an der Wandmalerei vorbei gelaufen ist.

"Ich bin nicht feige", flüstert Iljana, "Auch nicht stolz. Ich habe einfach Angst", gesteht sie und dreht sich zu Linea um.
Diese, überrascht von der Ehrlichkeit, nickt einfach nur.
"Meine Augen sahen mehr als deine."
"Die Augen zu verschließen ist auch kein Weg", erwidert Linea sanft.
"Ich weiß", flüstert Iljana und lächelt leicht, "Dass ist das, was ich dir anbieten kann."
"Und ich nehme es gerne an", antwortet Linea prompt, "Die Insel ist perfekt, um sich zu sammeln. Hier können wir in Ruhe planen."
Linea spricht einfach ihre Gedanken aus.
Iljana nickt und lächelt erneut.
"Dann hoffe ich, dass es dazu kommen wird und wir einander wiedersehen", sagt sie mit leise klingenden Zweifeln in der Stimme. Linea kann es ihr nicht verübeln. Auch sie würde zweifeln, wenn sie die Ruhe hätte darüber nachzudenken, wenn sie nicht jemanden retten wollen würde, der ihr nahe ist.

Doch so hat sie keine Zeit dafür und auch nicht die Möglichkeit. Beides würde ihr Vorhaben ins Wanken bringen und das lässt sie nicht zu. Dafür ist sie zu weit gekommen.



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