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Ein herrlicher Geruch erfüllt die Luft, als das Mädchen ihnen den Eintopf serviert. Heißer Dampf steigt empor, der Lineas Nase kitzelt, als sie sich hinabbeugt und hungrig Löffel um Löffel in ihren Mund schiebt.

Es ist Luxus nicht selbst kochen zu müssen und würde sie nicht Gefahr laufen als das erkannt zu werden, was sie ist, würde sie vermutlich ihr ganzes Geld zum Essen gehen ausgeben.

Der Eintopf schmeckt würzig. Zartes Fleisch gepaart mit süßer Möhre und scharfer Zwiebel. Am liebsten würde sie gleich eine zweite Schüssel bestellen, doch sie unterdrückt den Drang.
Während sie förmlich schlingt, isst der Kapitän langsam, so als würde er jeden Bissen in den vollsten Zügen genießen.

"Wahs ich schagen wollt-e", schmatzt er und schluckt, "Wir befinden uns hier in einem Stadtteil, in dem die meisten Menschen leben. Deswegen wird er auch von den Crows liebevoll Menschennest genannt."
"Nett", antwortet Linea abschätzig und taucht ihren Löffel erneut in die Schüssel.
Der Kapitän zuckt die Schultern, "Ist halt wie es ist." Er blickt sich um und schiebt dabei mit seinem Arm den Löffel vom Tisch. "Verdammt aber auch", flucht er und beugt sich unter den Tisch. Linea hört scharrende Geräusche und Ächzen.
"Könntest du mal?", entkommt es dem Kapitän, der unter dem Tisch einen langen Arm macht, "Der Löffel liegt nahe deines Stuhlbeins."

"Natürlich", antwortet sie mit tieferer Stimme und beugt sich zur Seite. Ihre linke Hand sucht den Boden um ihren Stuhl ab, doch nirgends erfühlt sie einen Löffel.
Sie will sich gerade wieder aufrichten, da greift seine Hand nach ihrer und zieht sie weiter unten den Tisch.
Überraschung macht sich in ihr breit, bevor sie etwas sagen kann, fragt der Kapitän laut: "Hast du ihn?"

"Ne-ein", entwidert Linea stockend. "Ah warte, da ich seh ihn", sagt er daraufhin und flüstert direkt danach: "Wenn du von hier aus in den westlichen Teil gehst, kommst du in das Viertel der Crows. Dieses ist durch eine Mauer vom Rest der Stadt abgetrennt. Es gibt nur einen Eingang, ein großes Tor, das dementsprechend auch der einzige Ausgang ist. Dort leben sie, doch organisiert werden sie von dem Schloss auf dem Berg. Du hast es vom Schiff aus gesehen, richtig?"
Linea nickt daraufhin.
"Da, da ist er. Links neben dem anderen Stuhl", sagt der Kapitän in normaler Lautstärke, bevor er flüstert: "Da werden die Gefangenen hingebracht. Der einzige Weg dorthin führt durch den westlichen Teil der Stadt."
"Woher wisst Ihr das alles?", flüstert Linea.
"Wann anders, vertrau mir einfach", grummelt er zurück und sagt im nächsten Moment: "Ach, endlich. Danke vielmals für deine Hilfe."

Der Kapitän richtet sich mit dem Löffel wieder auf, während Linea sich fragt, ob er ihn während des gesamten Gesprächs in der Hand gehalten hat. Auch sie richtet sich langsam wieder auf, zieht die Tischdecke zurecht und greift nach ihrem Löffel, um weiter zu essen.

Dieses Mal schlingt sie nicht. Es sind nur noch letzte Reste in ihrer Schüssel. Diese genießt sie, in dem Wissen, dass sobald ihr Eintopf aufgegessen ist, sich der Weg des Kapitäns und ihr eigener erstmal trennen werden und das lässt ihr Herz nervös flattern.

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Kalte Nachtluft schlägt ihr entgegen, als sie die Tür des Blitzes öffnet und mit einem kurzen Blick zurück diesen hinter sich lässt.
Sie sieht sich kurz um.

Die Gasse wurde über die Zeit immer leerer. Nun sind kaum noch Menschen unterwegs, die geschäftig ihren Verpflichtungen nachgehen. Nur vereinzelt stehen oder sitzen noch einige von ihnen an Hauswänden. Die meisten sind Männer, die scheinbar keine Bleibe haben und sich häuslich in der Gasse eingerichtet haben oder Betrunkene, die keinen geraden Schritt mehr schaffen und sich hilfesuchend an den Häuserwänden anlehnen.
Es ist ein ähnliches Bild wie vor jeder Taverne oder jedem Wirtshaus, das Linea in der letzten Zeit besuchte.

Sie will gerade die Gasse entlang laufen, da spürt sie einen festen Griff um ihrem Arm, der sie hindert.
Vor Schreck bleibt ihr die Luft weg, ihr Herzschlag verdoppelt sich, ruckartig dreht sie den Kopf und erblickt ein alt bekanntes Gesicht, das sie im Schein der Gaslaternen anlacht.
"Nein", haucht sie und sie weiß kurzfristig nicht, ob sie es wirklich aussprach oder nicht.

"Ich wollte dein Gespräch mit dem Herren nicht unterbrechen, aber als ich sah, dass du gehst, dachte ich, ich sage mal hallo", er lässt ihren Arm los und hebt die Hand wie zum Gruß, "Hallo", sagt er unnötigerweise.
Linea kann nicht glauben, dass er erneut vor er steht.

Wer ist er?

Aorian, der ihre Verwirrung zu spüren scheint, sagt mit amüsierter Stimme: "Ich hatte dir doch bereits im Bullauge gesagt, dass wir das gleiche Ziel hätten. Scheinbar haben wir es erreicht. Obwohl", er pausiert und sieht sie aus offenen Augen an, "Du ja noch nicht ganz angekommen bist, richtig?"

Sie sieht ihn schweigend an. In ihr rattert es.
"Warum treffen wir einander immer wieder?", fragt sie irgendwann und spricht damit ihren Gedanken, dass es so viele Zufälle gar nicht geben kann, einfach aus.
"Hmmm", macht er und sieht durch die in Falten gelegte Stirn wirklich so aus, als würde er nachdenken, "Zufall? Oder Schicksal? Man weiß es nicht, oder?"
"Daher die Frage", gibt Linea zurück und fragt sich im nächsten Moment, warum sie überhaupt noch mit ihm redet. Sie sollte einfach gehen und diesen merkwürdigen Menschen, dessen letzte Begegnung sie nicht vergessen hat, einfach stehen lassen.

"Ich sah eine bekannte Person, da wollte ich Hallo sagen", sagt er erneut.
"Nun hast du das ja getan", antwortet Linea kurz angebunden, nachdem sie beschlossen hat wirklich zu gehen.
Sie macht auf den Absatz kehrt und will gerade die Gasse weiter entlanglaufen, da fragt er sie: "Nimmst du eigentlich deine Maskerade ab, sobald du Zuhause bist?"

Sie hält inne. Wagt es nicht zu atmen.
"Du gehst doch nun in den westlichen Teil oder nicht? Ich frage mich wirklich, warum eine Crow sich verbirgt. Das habe ich noch nie gesehen und schon gar nicht hier in Alchandria."
Er sagt es so leichthin, als würde er über das Wetter reden, doch der Zweifel klingt in seiner Stimme unverhohlen mit.

Linea überlegt. Soll sie antworten oder gehen? Wie würde sich ein eiskaltes Monster verhalten? Würde es ihn anspringen und das Fürchten lehren oder wäre es gleichgültig, weil es sich seiner Sache sicher ist?
Fieberhaft folgt sie den einzelnen Gedankengängen und sieht, wie Aorian sich in Bewegung setzt.
Die dumpfen Geräusche seiner langsamen Schritte kommen ihr immer näher. Auf seinem Gesicht ein neutraler Ausdruck, der im Schein der flackernden Laternen einfach irgendwie furcheintflößend wirkt. Teile seiner Gesichtszüge liegen im Schatten, sodass Linea unwillkürlich wieder das Bild eines zerlaufendem Gesicht in den Kopf bekommt.

Bevor er sie erreicht und mit ihr auf gleicher Höhe steht, macht Linea auf dem Absatz kehrt und läuft so gemächlich wie sie kann die Gasse hinab. Er soll nicht merken, dass sie ihn nicht einschätzen kann, dass er und seine Machart für sie nicht greifbar ist und dass das etwas ist, was sie nervös macht. Für sie ist klar, egal wer er ist, sie will ihn definitiv kein viertes Mal begegnen und die Bestätigung dessen folgt prompt.
Der Klang eines amüsierten Lachens hallt ihr nach und ein Ruf: "Bis zum nächsten Mal!"

The Crows Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt