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Linea schwebt irgendwo zwischen dem Hier und dem Jetzt und dem Nirgendwo. Sie hat das Gefühl, als liege sie auf einer Wolke, obwohl ihr Körper gerade erneut auf den Tisch fallen gelassen wird, ohne Rücksicht auf ihre Wunden.
Wäre Linea bei Verstand, würde sie spätestens jetzt laut aufschreien, doch sie bleibt stumm.

Bernia bemüht sich nicht mal mehr ihre Tochter zu fesseln. Sie glaubt nicht daran, dass diese es überhaupt noch aus eigener Kraft schafft den Kopf zu heben und sie muss sich beeilen. Lineas Atmung wird immer flacher, wenn sie sie als Opfer anbieten möchte, dann sollte sie das tun, während Lineas Herz noch schlägt.

Die Zeichnungen sind noch immer da. Sie haben sie nach ihren letzten Versuch nicht fort gewischt.
Bernia greift sich das Buch und beginnt zu summen. Sie selbst hat das Ritual nie vollzogen. Hat immer daneben gestanden und beobachtet. Es selbst zu tun, fühlt sich ungewohnt und fremd an.
Doch sie hat die Worte oft genug gehört, so oft, dass sie sie Linea lehren konnte.

Warum soll sie also selbst nicht in der Lage sein, das Ritual zu vollziehen?

Linea atmet langsam aus. Etwas in ihr ist bereit einfach die Augen zu schließen. Das Leben Leben sein zu lassen. Es hat für sie nichts Gutes bereit gehalten. Soviel Schmerz, übermächtig.

Wofür leben, wenn mein einziges Ziel die Rettung meiner Mutter war?

Und diese ihr nun den Todesstoß gibt.

Ich hatte nie einen Wert. War nur eine Marionette.

Lineas Gedanken bestätigen sie und mit diesen verabschiedet sie sich langsam von der Welt, doch dann spürt sie, ganz klein wie die schwach flackernde Flamme einer Kerze den Wunsch zu leben.
Sie will nicht sterben. Eigentlich will sie das nicht, doch ihre Angst vor dem Leben ist einfach zu groß.
Ihre Angst, die sie schon immer gebremst hat.

Diese eine Angst vorm Alleine sein.

Aber ich bin nicht alleine. Ich habe...

Der Gedanke verflüchtigt sich und plötzlich fühlt sie Sicherheit. Eine warme Umarmung. Nichts Schlimmes kann geschehen.

... Du hast mich.

Dich?, antwortet Linea ihrer Stimme.

"Mich!" Die Stimme ist nun lauter und wie Linea mit Schrecken feststellt, ist es nicht ihre eigene, die mit ihr redet.

Es ist eine tiefe Stimme, die in ihren Knochen dröhnt und sich anfühlt, als würde ein Eissturm und im nächsten Moment einer aus Feuer über sie hinweg fegen. Kalt und Heiß.

Ich habe dir geholfen, doch du hast mich verbannt. Sag Linea, willst du sterben?

Will sie sterben? Vor ihrem innerem Auge sieht sie Kieran, sie sieht Firora, Merine, Heran, den Kapitän und Kaan.

Freunde, flüstert die Stimme.

Ja, es sind ihre Freunde. Sie hat geglaubt, ihr einziges Ziel sei, ihre Mutter zu retten und weiter an ihrer Seite zu sein. Doch das ist nicht wahr. Sie kann auch ohne sie leben. Sie ist nicht alleine. Keiner von ihnen tat ihr je etwas an, nutzte sie nicht für eigene Interessen. Sie waren für sie da seit dem Moment, als sie sie kennengelernt hat.
Will sie sterben? Nein...

Ich will nicht sterben. Vier einfache Worte, die alles aussagen, was gesagt werden musste.

Willst du meine Hilfe?

Die Stimme dröhnt in ihrem Kopf.

Nimm sie an oder stirb mit deinen Freunden an diesem Ort.

Ich will sie retten, wenn ich schon nicht meine Mutter retten konnte. Keiner soll zu schaden kommen, weil sie mir geholfen haben.

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