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"Das ist wunderschön", haucht Linea, auch wenn keiner in ihrer Nähe steht, an dessen Ohren ihre Worte gelangen können.

Sie blickt hinauf zu einem nachtblauen Himmel, an dem unzählige Sterne wie Diamanten auf sie herab funkeln und sich in der ruhigen Wasseroberfläche spiegeln.
Es glitzert von oben und von unten und Linea bereut zum ersten Mal nicht mit einem Schiff gefahren zu sein. Es ist ein atemberaubender Anblick und eine herrliche Nacht.

Auf dem Schiff ist Ruhe eingekehrt. Die meisten Männer haben sich nach ihrem harten Tag unter Deck zurückgezogen, nur vereinzelt finden sich noch einige oberhalb dessen. Eine kleine Gruppe, die im Schneidersitz im Schein einer Gaslampe Karten spielt. Ein Mann, der die aufgeladenen Kisten als Liege nutzt und immer wieder genüsslich aus seinem Krug trinkt, während er leise summend zum Himmel hinaufblickt und Linea, die an der Reling lehnt und in die Weite des Meeres sieht.
Eine leichte Brise umspielt die, die ihren eigenen Gedanken nachhängen.

"Wunderschön, oder?", fragt der Kapitän, als er an Linea herantritt.
Sie neigt den Kopf und nickt, "Ein einzigartiger Anblick. An Land habe ich dem nächtlichen Himmel nie viel Beachtung geschenkt."
"Das ist die See. Sie zeigt die Schönheit, die uns in jedem Moment umgibt, noch klarer."
Linea schweigt einen Moment, blickt auf die dunkle Oberfläche, die von dem Sternenlicht durchbrochen wird.

"Deswegen wurde ich Seefahrer."
Sanft erklingen seine Worte in der Dunkelheit, so als sei sein Geist auf einer Reise, doch nicht auf diesem Schiff, sondern freier, nicht an Ort und Zeit gebunden.
"Wart Ihr das nicht von Anfang an?", fragt Linea vorsichtig und sieht ihn von der Seite her an.
"Du meinst, ob ich hinein geboren wurde?" Er schüttelt den Kopf, lacht leise, "Nein", beantwortet er seine eigene Frage, "Es war eine bewusste Entscheidung, um dem Land zumindest kurz zu entfliehen und die Schönheit dieser Welt wieder zu erkennen."

Linea lässt die Worte auf sich wirken. "Ich kann verstehen, wenn man dem Land entfliehen will", murmelt sie, während sie selbst von einer Freiheit träumt, die nie wirklich real war. Doch nur ein Fünkchen davon ist es wert sie zu erleben; die Schwingen ausbreiten, den Wind spüren und schwerelos gleiten. Ein Gefühl von Freiheit, die mehr Schein als Sein ist.

"Ja", sagt er und stößt sich von der Reling ab, "Nachdem ich an Land alles verlor, meine Frau, mein Kind, mein Heim, da zog es mich hier her."
"Das tut mir leid", flüstert Linea sanft und verstärkt den Griff um das glatte Holz unter ihren Händen.
Der Kapitän winkt ab, "Das muss es nicht. Ich bin nicht der Einzige, der etwas verlor und werde nicht der Letzte sein. Das ist unsere Welt."
"Eher die der Crows", erwidert Linea kühl.
Der Mann sieht sie sanft an, "Ja auch die, aber auch von uns, uns Menschen. Wir haben uns unsere eigene Hölle geschaffen, nun sollten wir mit erhobenen Kopf in ihr leben."

Seine Worte überraschen sie so sehr, dass sie sich zu ihm umdreht.
"Meint Ihr das ernst?
"Natürlich", antwortet er unbekümmert, "Die Crows mögen sein wie sie sind, aber wir Menschen haben unsere Verantwortung. Wir kämpften nie unseren eigenen Krieg. Erst opferten wir die Doves in unserer Sache und nun, wo die nicht mehr da sind, leben wir einfach mit den Gegebenheiten, die uns auferlegt werden."

Stumm sieht Linea den Mann an, während in ihr der Respekt ihm gegenüber wächst.
"Ihr seid ein kluger Mann", stellt sie fest und bringt ihn damit zum Lachen.
"Ein Toter, wohl eher, aber hier haben die Wände keine Ohren. Nur der Himmel und die See sind Zeuge dessen."
"Beim Himmel solltet Ihr vorsichtig sein. Gerade in der Nacht, wenn sich Schwarz kaum vom Dunkelblau abhebt", antwortet Linea dunkel.
Erneut macht er eine wegwerfende Geste, "Wer sollte an mir Interesse haben? Ich bin nur ein kleines Rad in einem riesigen Getriebe und allmählich auch recht müde."
Schmunzelnd sieht er sie an, "Geht zu Bett. Ruht euch aus."
Und mit diesen Worten dreht er ab und verschwindet unter Deck.
Linea steht noch einen Moment an der Reling und blickt in den sternenklare Nacht.

Gerade als sie sich umdrehen will und dem Kapitän folgen will, spürt sie eine schwere Hand auf ihrer Schulter. In Erwartung ihn wieder zu erblicken, dreht sie den Kopf. Doch anstatt seine Gestalt zu sehen, sieht sie den massigen Körper eines anderen Mannes.
Die Gaslampen spenden gerade genug Licht, um zu wissen wer da seine Hand auf ihre Schulter gelegt hat. Doch auch ohne dieses, hätte sie es gewusst. Schon allein der Klang seiner Stimme, mit der er sie nun anspricht, hätte sie es wissen lassen.

"Nun bist du alleine", flüstert er und kommt ihr immer näher. Sein wärmer Körper drückt sich an ihren Rücken und presst sie an die Reling. Sie versucht sich zu wehren, doch als er auch noch seinen Arm um ihre Mitte schlingt ist jede Gegenwehr erfolglos.
"Ich sagte dir, dass du es bereust und ich stehe zu meinem Wort", gurrt er fast, obwohl es sich durch seine tiefe Stimme eher wie ein Knurren anhört.

Ohne ein weiteres Wort zieht er ihr mit einem Ruck die Kapuze vom Kopf und erstarrt, als er sieht, was oder besser gesagt wer, darunter zum Vorschein kommt.
Glänzend rabenschwarze Haare, die das Mondlicht einfangen und in blaues Schillern verwandeln. Ein blasser Hals und zierliche Schulterblätter.
So hatte er sich den neuen Koch sicher nicht vorgestellt.
Keuchend stolpert er zurück.

Linea atmet tief ein, unterdrückt das Zittern ihrer Hände und zieht wortlos die Kapuze wieder über ihren Kopf. Ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals, während sie fieberhaft ihre Möglichkeiten durchgeht. Sie muss sich zur Ruhe zwingen, alles andere hilft nicht, macht es am Ende sogar noch schwerer.
Sie atmet tief ein und aus, bringt so den Sturm zum Verstummen.

Elegant, mit wehendem Mantel, dreht sie sich um und geht langsamen Schrittes auf ihn zu. Dieser stolpert zurück, sein Gesicht zu einer Maske der Angst verzerrt, während er sie mit laut klopfenden Herz betrachtet.
Als sein Rücken gegen den Fahnenmast stößt, bleibt er wie angewurzelt stehen.

"Wie..., wie? Wa-rum?", stottert er, als Linea den Spieß umdreht und nun ihm sehr, sehr nahe kommt. Sie muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm ins Ohr flüstern zu können.
"Ein Wort zu irgendjemanden und du wirst es bereuen. Ich stehe auch zu meinem Wort", gurrt sie und lässt dabei ihre liebliche Stimme erklingen, "Ich nehme dir alles was dir lieb und teuer ist. Dein Heim, deine Familie, deine Würde und wenn du nur noch ein blasses Abbild deinerselbst bist, dann komme ich und nehme dir auch dein Leben."

Sie lässt ihre Fingerspitzen über seinen Hals gleiten, liebkost ihn, spürt seinen starken Puls und seinen warmen Schweiß. Sein heißer Atem, der stoßweise seinem Mund entkommt, streichelt ihre Wange, als sie kichernd flüstert: "Langsam und qualvoll."
Sie tritt einen Schritt zurück, betrachtet den Mann, der nun nicht mehr so stark wirkt. Sieht zu, wie er sich unter ihrem Blick windet, wie er versucht ihm auszuweichen.

"Verstanden?", fragt sie mit einer Freundlichkeit in der Stimme, die definitiv nicht zu ihren vorherigen Worten passt.
Der Glatzkopf bringt nur noch ein Nicken zu Stande, ehe er so schnell wie er kann davon taumelt.

Linea atmet tief aus. Auch wenn es alles leere Versprechungen sind, so verspürt sie doch ein wenig Genugtuung so einem Menschen mal einen gehörigen Schrecken einzujagen. Vielleicht lernt er dadurch Dinge verborgen zu lassen, die verborgen werden wollen.

Nun entscheidet seine Angst vor den Crows, wie sich ihre Weiterfahrt gestaltet.

The Crows Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt