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Dumpfe Geräusche werden hinter ihr laut. Noch ehe sie in der Lage ist sich umzudrehen, wird sie von fremden Händen bereits hochgezogen. Sie leistet keine Gegenwehr, als zwei bemalte Männer sie den Gang entlang ziehen und erst ihre Hände wieder von ihr lösen, als sie sie neben den Käfigen herab gedrückt wird.

Auf den Knien hockend, blickt sie zu den wallenden Tüchern empor, während ein Aufkeuchen neben ihr ertönt.
"Was machst du denn hier?", fragt eine Stimme entsetzt und Linea muss den Sprecher nicht ansehen, um zu wissen, dass es der Kapitän gewesen ist.
"Großartig, unsere Rettung ist der Koch", grummelt eine zweite Stimme.

Linea ignoriert beide. Sie hält ihren Blick weiterhin auf die Schattengestalt gerichtet, voller Spannung wie sich dieses Treffen nun weiter entwickelt. Sie kann förmlich spüren, wie ihr Blut beginnt zu rauschen und ihr Herz langsam, kraftvoll schlägt.

"Zeig mir dein Gesicht", ertönt die Stimme und es wirkt so, als käme sie von überall aus der Höhle.
Linea atmet einen Moment einfach nur, während die Geräusche um sie herum verstummen.
Sie konzentriert sich rein auf ihre Atmung, ein und aus, ein und aus. Ihr ist klar, dass nun ihre sorgfältig aufgebaute Tarnung aufgedeckt wird und das sogar durch ihre eigene Hand. Doch, wenn sie ihr Gefühl nicht täuscht und das tut es selten, ist dies kein Grund um beunruhigt zu sein.

Nun sieht sie doch zum Kapitän, der sie mitleidig, aber auch mit einer Spur Neugier ansieht. Er erwartet eine Frau zur Unkenntlichkeit gezeichnet. Von ihrem Mann davongelaufen, der sie derartig verunstaltet hat.
Einen Moment lang zögert sie noch, doch dann leistet sie dem Befehl Folge.

Ihre Hände fassen an den Rand der Kapuze.
So hält sie kurz inne und im nächsten Moment nimmt sie sie ab.

Stille ertönt als Antwort. Atemlose Stille. Ein Seitenblick zum Kapitän verrät ihr, dass das pure Entsetzen in seinem Gesicht geschrieben steht. Damit hat er wohl nicht gerechnet, dass unter der Kapuze keine verunstaltete Frau zum Vorschein kommt, sondern die pechschwarzen Haare einer Crow.

Linea erhebt sich und bringt alle bemalten Männer in ihrer Nähe dazu einen Schritt wegzutreten.
"Und du sagst meine Menschenkenntnis sei schlecht", grummelt es stichelnd in ihrer Nähe.

"Mutig", erklingt es knapp, "Sehr mutig. Was hat es dich gekostet?"
"Ein Versprechen", antwortet Linea und blickt starr nach oben.
"Da würde ich gerne mehr darüber erfahren." Die zuvor düstere Stimme klingt plötzlich sanft, ja schon fast liebevoll.
Ein merkwürdiger Wechsel, wenn man bedenkt, dass sie zuvor so kalt wie ein Eissturm geklungen hat.

Die Tücher beginnen zu vibrieren, ehe sie sich schwungvoll öffnen und eine Frau in das Blickfeld der Menschen tritt.
Ein lautes Aufkeuchen ertönt.
Kein Wunder. Der arme Kapitän hat definitiv nicht damit gerechnet, dass sein Koch eine Crow ist, noch weniger hat er allerdings damit gerechnet, dass sein Geiselnehmer eine Dove ist.

Linea hingegen hat damit ab dem Zeitpunkt ihrer Entdeckung gerechnet. Sie hat es im Gefühl gehabt, sowie sie es im Gefühl hatte, wenn ihre Mutter sich in der Nähe befand, ohne dass sie sie hörte oder gar sah.
"Dachte ich es mir doch", sagt die Dove und lächelt, "Wir spüren einander, nicht?"

Sie hat eine zierliche Gestalt und feine Gesichtszüge, die sie vermutlich jünger aussehen lassen als sie es wirklich ist. Sie trägt ein einfaches weißes Kleid und ihre langen weißen Haare fallen offen über ihre Schultern, sodass sie bei jeder Bewegung von ihnen umspielt wird.

"Lass mich dich betrachten", bittet sie und hebt im nächsten Moment ihre Arme. Federn sprießen aus der Haut. Es dauert nur wenige Sekunden, da werden aus ihren Armen riesige weiße Schwingen.
Sie erhebt sich mit einem kraftvollem Schlag in die Luft und gleitet daraufhin wie eine Feder zu Boden.
Auf ihren Füßen angekommen, verwandeln sich ihre Schwingen zurück.

Den beiden Männern stehen die Münder offen. Sie drücken sich zeitgleich an die hintere Wand ihres Käfigs, fast so als erwarten sie einen Kampf, bei dem der Ausgang darüber entscheidet, ob das Licht oder die Dunkelheit siegt. Nichts dergleichen werden ihre Augen zu sehen bekommen.

Die Bemalten machen der Dove Platz, als sie Linea entgegen schreitet. Kurz vor ihr bleibt sie stehen und sie betrachten einander einfach nur.
"Lehrte dich das deine Mutter?", fragt sie und nickt Lineas Erscheinung zu. Linea schüttelt den Kopf, "Es stand in einem der Bücher meiner Großmutter. Ich las als Kind viel."
Die Dove nickt anerkennend, "Und du hast es dir gemerkt für den Fall der Fälle." Trauer schwingt in ihrer Stimme mit.
Ohne weiteres zu sagen, überbrückt sie die letzten Schritte zu Linea und zieht diese in eine Umarmung. Linea verschluckt sich beinahe an ihrer eigenen Spucke. Damit hat sie nicht gerechnet, dennoch lässt sie es geschehen, wenn auch mit Unbehagen.

"Ich habe schon lange nicht mehr meinesgleichen gesehen. Viel zu lange ist es her", murmelt die Dove nahe Lineas Ohr, "Also verzeih, meine unübliche Begrüßung."
"Es ist in Ordnung", haucht Linea tonlos.

Es ist ungewohnt jemanden so nahe zu sein, vor allem in dieser Zeit, in der Nähe nichts alltägliches ist. Und gerade auch, wenn man denjenigen nicht kennt, der einen in eine Umarmung zieht.
Sie selbst hatte ihre Mutter kaum umarmt, es war immer etwas anderes zu tun und nun bereut sie es, es nicht getan zu haben. Die Umarmung ihrer Mutter wäre ihr soviel lieber.

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"Du bist also eine Dove, siehst aber aus wie eine Crow", wiederholt der Kapitän langsam, während er versucht zu verstehen was dieses ungewöhnliche Mädchen eben gesagt hat.
Die Drei sitzen an einem großen Feuer, das zu ihren Ehren entzündet worden ist.

Seitdem Linea dem Kapitän und seinem Freund reinen Wein eingeschenkt hat, beobachtet sie immer wieder die Dove wie sie herumgeht und mit den Menschen spricht. Manchmal lächelt sie dabei. Sie scheint hier ein Heim gefunden zu haben, von dem sie geliebt und geschützt wird. Weit weg von der Dunkelheit und verborgen vor deren Augen.
Linea erinnert sich, wie der Kapitän gesagt hat, dass hier laut Karte keine Insel sein dürfe. Es ist das perfekte Versteck.

Kaan, der neben dem Kapitän sitzt, stößt ihm seinen Ellenbogen in die Rippen und lacht, "Ist doch einfach! Es ist eine Verkleidung, richtig?" Er sieht Linea an und bringt sie zum Nicken.
"Deswegen wollte ich bei Euch mitfahren", sagt sie an den Kapitän gewandt, "Eine Crow kann sich nicht in eine Taube verwandeln und..."
"Fliegen", beendet der Kapitän ihren Satz. Sie nickt erneut.

"Puh, dass diese Insel so viele Geheimnisse zu Tage bringt", Kaan seufzt, "Unser Koch ist eine Frau, die Frau ist eine Crow und die Crow ist eigentlich eine Dove. Nebenbei stranden wir an einer Insel, deren Herrscherin auch eine Dove ist. Ey, ey, ey."
"Fertig?", brummt der Kapitän und rollt mit den Augen.
Kaan verschränkt die Arme hinterm Kopf und lehnt sich soweit zurück, dass er droht von dem Baumstamm zu kippen.
"Noch nicht ganz", antwortet er in einer Sing-Sang-Stimme, "Ich warte noch darauf, dass du mir mein Recht zugestehst."
Linea sieht verwirrt von einem zum anderen Mann, während der Kapitän knurrt.
"Du... hattest... recht." Hätte Linea nicht gewusst, was der Kapitän sagen soll, hätte sie ihn nicht verstanden.
Das sieht Kaan scheinbar genauso, denn er wackelt mit den Augenbrauen und erwidert mit kindlicher Stimme: "Ein wenig lauter bitte."
"Du hattest recht! Zufrieden? Beim alten Seegras, ein blindes Huhn findet halt auch mal ein Korn."

"Worüber redet ihr? Womit hatte er recht?", fragt Linea neugierig.
Kaan beugt sich wieder nach vorne und zeigt mit dem Daumen auf sich selbst, "Ich", betont er, "Glaubte dir von Anfang an nicht. Ich wusste nicht wer oder eher was du bist, aber ich glaubte nicht, dass eine Frau, verunstaltet oder nicht, freiwillig auf einem Schiff anheuert."
Der Kapitän knirscht mit den Zähnen.
"Ich hatte es ihm gesagt, doch er wollte nicht hören. So sehr ließ er sich von den Tränchen um den Finger wickeln."
Linea greift plötzlich nach des Kapitäns Händen, was ihn überrascht aufsehen lässt.

"Verzeiht, dass ich Euch belog."
Sie meint ihre Worte ernst. Noch nie hat sie einen Menschen um Verzeihung gebeten, doch er hat genau diese verdient.
"Ist gut", grunzt er und entzieht ihr in Windeseile seine Hände.
Fragend sieht sie ihn an.
"Es ist wirklich gut", wiederholt er.

Linea nickt. Anders als geplant, aber es ist in Ordnung sowie es jetzt ist.

The Crows Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt