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Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zur Schule, darauf bedacht weit genug von Adrian entfernt zu bleiben.

An der Schule angekommen, erwartete uns schon ein grinsender Yannik. Es war für ihn definitiv Liebe auf den ersten Blick und, wenn mich nicht alles täuschte, dann war auch Elli nicht ganz abgeneigt. Doch etwas Anderes, als die zwei Turteltauben, lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich.

Ich hörte aus der Mitte einer Menschenmenge laute rufe und und vereinzelt Schreie. Ich packte Elli bei der Hand und zog sie mit mir zu der Menge, um nicht alleine da zu stehen. Yannik lief uns wie ein treu-doofer Hund hinterher.

Ich drängte mich immer weiter in die Mitte, auch wenn ich mich dabei unwohl fühlte, aber diese Stimme kam mir einfach bekannt vor.

"Bitte, ich war es nicht, wirklich.", hörte ich sie leise wimmern. Ich sah, wie sich ein Junge über ein viel kleineres Mädchen beugte und sie zu Boden drücktt.

Um ihn herum standen weitere Jungs seines Alters und verschränkten grimmig die Arme. Der Junge in der Mitte holte aus und schlug zu. Ich hörte wie sie Faust auf weiche Haut trifft, wie sie weint und fleht. Ich ging einen weiteren Schritt auf sie zu.

Und wen ich sah gefiel mir überhaupt nicht.

Lilly.

Ich stand regungslos da und betrachtete das Bild, das sich mir bot. Elli neben mir sah geschockt zu Boden. Lilly währte sich nicht.

'Tu doch was', flehte ich sie in Gedanken an. 'Hol aus, kick ihn, tritt ihn, beiß ihn meinetwegen, aber tu doch was'. Aber sie lag nur da und ließ es über sich ergehen.

Ihre Nase blutete und ihre Lippe war schon längst aufgeschlagen, als ich aus der Menge nur ein verzweifeltes: "Jetzt tut doch was", hörte.

Ich sah mich um, in der Hoffnung jemand würde etwas unternehmen, doch keiner bewegte sich. Ich wartete und die Sekunden fühlten sich an wie eine Ewigkeit, doch nichts passierte. Geschockt beobachtete ich, wie sich Lillys Augen verdrehten und ihre Lider zu flattern begannen.

Erst jetzt bemerkte ich das aufgeregte Tuscheln um mich herum. Und auch erst jetzt merkte ich, dass ich scheinbar die Luft angehalten hatte. Zaghaft ging ich weiter in die Mitte, einen Schritt auf den Jungen zu.
Ich hatte Angst und wie, aber ich durfte es mir nicht anmerken lassen.

Ich tippte dem Jungen, der sich immer noch über Lilly lehnte auf die Schulter. Er stoppte mitten in der Bewegung, drehte sich in meine Richtung und richtete sich auf.

Wir standen auf Augenhöhe, bis er mich von sich weg stieß.
Fehler.
Ganz böser Fehler.

Ich holte aus und nach einem lauten Knacken und einem Schrei seinerseits, gab ich mich zufrieden.
Schmerzerfüllt hielt er sich die Nase.
Das Blut floss unentwegt, genauso wie seine Tränen.
Er weinte vor Schmerzen.

Seine Freunde gingen gerade auf mich zu, als Adrian und Yannik mir zu Hilfe kamen und zwei von ihnen festhielten.

Elli stürmte an mir vorbei auf Lilly zu, um ihr zu helfen. Der dritte Freund dagegen ging auf mich zu und ging mit einem Tritt in die Eier zu Boden. Ich musste schmunzeln, im Ring wäre ich schon längst disqualifiziert, aber dies war nicht der Ring. Ich hatte weder etwas zu verlieren, noch zu gewinnen und dennoch hatte ich einen Grund. Ich beschützte jemanden, der mir wichtig war.

Langsam drehte ich mich zu den anderen, den Wahnsinn schien man mir anzusehen. Und schneller als ich 'Lauft' sagen konnte, waren sie schon weg.

Auch der Junge mit der blutigen Nase richtete sich auf und wollte gehen, doch ich packte ihn nur und meinte: "Wagt es noch einmal sie anzufassen und-"

Ich brauchte die Drohung gar nicht zu beenden, schon war er verschwunden. Ich drehte mich zu der Menschenmenge.

"Verschwindet, alle mit einander. Schämt ihr euch nicht?! Ihr seid Dreck, ihr alle, dass ihr einfach zu seht, wie ein kleines Mädchen verprügelt wird."

Mit diesen Worten löste sich die Gruppe auf und alle gingen ihrem gewohnten Tagesablauf nach. Ich stand dennoch weiter da, starrte ins nichts und dachte nach.
Denn tief im Innern wusste ich, dass diese Worte eigentlich mir galten.

Erwacht aus der Starre, stürzte ich zu Elli und Lilly auf den Boden, die mittlerweile wieder zur Besinnung gekommen war und das Spektakel wohl mitbekommen haben musste.

Vorsichtig nahm ich ihr Gesicht und meine Hände und strich behutsam über ihre Wange, sie zuckte dabei leicht zusammen und sah mich ängstlich an.

"Warum hast du dich nicht gewehrt Lilly?", fragte ich sie vorsichtig, doch sie zuckte nur mit den Schultern.
Auch diese Bewegung schien ihr weh zu tun.

"Ich hätte auf dich aufpassen sollen. Ich hab es ihm Versprochen, ich hab mein Versprechen gebrochen. Verdammt, ich hätte das alles hier verhindern können. Ich hab ihm doch mein Wort gegeben. Verdammt." Die Sorge wurde zur Hysterie. Ich drehte durch, ich stand auf und drehte komplett am Rad. Ich war nicht mehr ich selbst.

Ich hasste mich so unendlich dafür, ich hätte etwas dagegen unternehmen können. Ich hatte nichts getan, ich war Schuld daran.

Ich lief auf und ab. "Ich hätte-. Ich hätte-"
Ich würde immer verzweifelter, frustrierter, wütender. Ich wollte mich kratzen, doch es ging nicht. Nicht hier vor versammelter Mannschaft. Ich konnte auf nichts einschlagen, mich nicht abreagieren.

Ich hasste mich. Ich hätte etwas tun sollen. Mit jedem Gedanken, fing ich an mich selbst zu schlagen, mir weh zu tun, auf jedem erdenklichen Weg, egal wie. Meine Handballen trafen immer wieder auf meinen Kopf, immer fester, immer stärker, immer bewusster.

Ich hasste mich, ich hatte es verdient. Ich war Schuld. "Ich hätte ihr-"

Eine verzweifelte Elli schrie mich an, doch ich kam aus dieser Situation nicht mehr raus. Ich war gefangen. Eine Gefangene meiner eigenen Gedanken. Eine Gefangene meiner eigenen Gefühle.

Erst als als Adrian meine Fäuste festhielt und mich anbrüllte, bemerkte ich mein Umfeld wieder. Ich war so wütend.

"Charlie. Charlie, schau mich an. Siehe her!", ich blickte zu ihm auf.
"Beruhig dich, komm runter verdammt. Elli ist schon total fertig, siehst du nicht, was du mit ihr machst?", ich schaute zu ihr rüber. Schuld zerfraß mich.

Ich wußte, ich war nicht gut für sie, ich wußte ich war nicht gut für alle hier. Ich war es nicht Wert.

Ich riss mich von Adrian los und stürmte davon. "Charlie", schrie er mir hinterher. Ich hielt an, doch anstatt zu ihm zurück zukehren, drehte ich mich nur um und rief: " Was, Adrian. Was willst du mir noch sagen? Dass ich schlecht für euch bin, dass ich mich nicht mehr blicken lassen soll, dass du mich hasst?"

"Pass auf dich auf."

Und wie vom Donner gegerührt, blieb ich noch einen kleinen Augenblick stehen und sah ihm die Trauer an. Den Schmerz, den ich verursacht hatte.

Ein letztes Mal sah ich sie mir alle an. Yannik und Elli, die sich liebevoll um Lilly kümmerten. Adrian, nach dem mein Herz so verzweifelt schrie, weil er alles war, was ich noch hatte.

Mit einem Satz riss ich mich von diesem Anblick und rannte zur Toilette, in welcher ich mich einsperrte.

Erneut holte ich mein Messer aus dem BH und setzte es an. Das Blut ersetzte meine Tränen, doch ich wollte mehr sehen. Ich wollte erinnert werden, dass ich noch immer hier war. Ich wollte spüren, wie es ist lebendig zu sein.

'Ich wollte fühlen.'

Honey BadgerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt