•vier•

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"Ich dachte, weil wir ja jetzt in ein neues Jahr starten, dass wir auch mit einem neuen, deutlich angenehmeren Thema anfangen", freundlich lächelte mich der alte Herr mit seiner halbmondförmigen Brille an.

Die Kreide kratzte unangenehm über die dunkelgrüne Tafelseite und das Geräusch hallte in meinem leeren Kopf wieder.
Die Gänsehaut zog sich von meinen Armen bis hin zu meinen Beinen, blieb den Rest der Stunde über und ließ mich erzittern.

>Gefühle<

"Ich möchte, dass ihr alles was euch einfällt nun her ruft und ich notiere es."

"Liebe"
"Euphorie"
"Geborgenheit"
"Mut"
"Willensstärke"

Die Worte wurden wild und durcheinander durch den Raum gerufen, jedoch ist jedes Wort positiv und das störte mich ungemein.

Irgendwann packte auch mich der Mut und ich hob meinem Kopf.
Gerade als ich meinen Mund öffnete, um einen Beitrag zu leisten, rief auch Adrian ein Wort in den Raum.

"Schmerz."

Meine Augen, die in dieser Situation Medusa selbst gleichen, funkelten ihn erbost an.
Ich weiss, dass er mich damit meint, doch ich ließ mich nicht fertig machen. Oh nein, nicht mit mir.

"Verlust"
"Wut"
"Mutlos"
"Verletzt"
"Einsam"
"Verzweiflung"
"Verlassen"
"Hass"
"Hintergangen"
"Enttäuschung"

Unser Lehrer unterbrach das Wortgefecht.

"Auch, wenn nicht alles nur Gefühlen entspricht, unterbreche ich mal an dieser Stelle. Ich merke da eine gewisse Anspannung, die Sie schleunigst untereinander klären sollten. Schließlich ist dies hier ein Ort des Vertrauens und wir wollen nicht in Zwiespalt enden. "

Der Mann mit der halbmondförmigen Hornbrille schaute mich über deren Rand warnend an.
Den Rest des Unterrichts bekam ich kaum mit, da mich Adrian's Worte und Blicke zum Nachdenken brachten.
In meinem Hals bildete sich ein dicker Klos, mein Magen rebellierte und ich wurde Kreide bleich.

Nachdem sich meine Übelkeit gelegt hatte und ich gerade stehen konnte, machte ich mich auf den Weg nach Hause, auch wenn mich der bloße Gedanke abschreckte. Trotz das meine Mutter nicht zu Hause ist, umhüllt mich ein unangenehmes Gefühl und nimmt mir die Luft zum Atmen.

Mein Hals kratzt und ich schnappte nach Luft, doch es funktioniert nicht.
Mein Körper schien zu versagen, meine Lunge ging nicht ihrer eigentlichen Funktion nach.

Meine Knie gaben nach.
Mein gesamter Torso stand in lodernden Flammen.
Meine Sicht wurde trüb und schwarze Punkte tänzeln vor meinen Augen.
Ich lag auf dem Boden mit Tränen in den Augenwinkeln und nach Luft ringend, die mir untersagt blieb.
Kleine Nadelstiche unter meiner Haut fingen an sich wie centimeterlange, scharfe Messerstiche zu verwandeln.
Die kleinen schwarzen Punkte, die bis vor kurzen einen Kunstvollen Tanz vor meinen Augen vollführten, wurden zu großen Flecken, die meine Sicht fast komplett einnahmen, bis alles schwarz wird.

Panik erfasst Adrian, als er seine ehemalige beste Freundin auf den Boden erblickte. Ihre Augen sind geschlossen, von dunklen Ringen umgeben, ihre sonst so blasse, sommersprossige Haut ist aschfahl.
Ihr Atem ist schwach und ihre Schultern hoben sich unregelmäßig.
Ihre magere Statur wirkte umso zerbrechlicher, als sie ohnehin schon ist.
Vorsichtig kniete er sich vor sie und prüfte ihren Herzschlag, der nur noch schwermütig schlug.

Gerade als er sie hochhebt und ihre kalte Haut zu spüren bekommt, durchfuhr sie ein Ruck und sie kam benommen wieder zu sich, doch Adrian ließ sie nicht los.
Ganz im Gegenteil er drückte sie nur näher, denn er wird sie nicht erneut gehen lassen, nicht so wie er sie damals gehen lassen hat.

Auch als sie sich vergeblich versuchte aus seinen Armen zu winden, lässt er nicht los. Die schmerzhaften Stiche nahe seines Herzens, die er verspürte als er an damals denkt, ignoriert er gekonnt. Er packt Charlie fester unter ihren Beinen, um sie in sein Haus zu tragen, vor dessen Gartentor sie zusammengebrochen war.

Sie schlummerte schon, als er sie auf das Sofa bettete und sie anschließend mit einer warmen Decke zu deckte.
Er kann sich nicht verdrücken ihr einen sanften Kuss auf die Stirn zu platzieren, um dann seufzend aus dem Wohnzimmer hinaus zu spazieren. Dieser Kuss war ein Versprechen. Ein solches, wie er ihr schon vor vielen Jahren gab.

Er ging hoch, legte sich in sein Bett und dachte über den heutigen Tag nach.
Er kann einfach nicht verstehen was passiert ist, sowohl mit ihm als auch mit ihr.
Die Zeithattet die beiden so sehr verändert, dass sie sich gar nicht mehr wieder erkannten.

Er fragte sich jedoch, was mit ihr geschehen ist und wieso sie sich so benahm. Er müsste doch derjenige sein, der durchdreht. Er war derjenige, der verletzt wurde.

Er hörte, wie unten die Tür zu knallte und zählte die Sekunden, bis eine irritierte Eleonora in seinem Zimmer steht.
Sie fragte ihn, wieso Charlie auf ihrem Sofa lag, doch er ignorierte sie und verschwand zur Tür hinaus.

Seine Beine trugen ihn auf den schon verlassenen Friedhof und er begab sich zu einem bestimmten Grab.

"Hallo Opa", flüsterte er. "Es tut mir leid, dass ich nicht da war, aber ich konnte nicht, Papa konnte nicht, Elli konnte nicht. Wir, wir hatten die Kraft nicht dazu", er senkt seinen Kopf und seine raue Stimme brach.

"Es ist gar nicht so lange her und ich kann es immer noch nicht richtig verstehen. Es ist einfach so leer ohne dich. Es tut mir so leid. Es ist, es ist alles meine Schuld", schluchzte Adrian.

Zum ersten Mal seit langem, stohl sich eine Träne aus seinen Augenwinkeln.
"Es ist alles zu viel für mich. Dein Tod, ihr Todestag und, und Charlie ist wieder da. Vielleicht kennst du sie ja, deine Nachbarin. Sie ist reizend, temperamentvoll und lustig, zumindest war sie das, bis sie mich allein gelassen hat", verbitterung schwingt in seiner Stimme mit.

"Ich muss los. Ich hab dich lieb Opa", flüstert er und blickt ein letztes Mal auf das Grab von Olaf Herzig bevor er sich abwendet, um zu gehen.

Honey BadgerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt