0 4 | e i n e m v o n u n s

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s o p h i e

OHRENBETÄUBENDE STILLE WAR das Einzige, was mich begrüßte, als ich später am Abend in mein Hotelzimmer zurückkehrte.

Ich legte meine Handtasche auf dem Sessel im Wohnbereich ab, trat mir die Doc Martens von den Füßen und schälte mich aus meinem Mantel. Dann ließ ich mich rücklings auf die himmlisch weiche Matratze des Betts fallen und starrte an die leere Decke. Obwohl mein Körper müde war – ich spürte meine schmerzenden Beine, nachdem ich den Vormittag damit verbracht hatte, durch die olympische Stadt zu schlendern – fühlte ich mich, als hätte ich gerade einen dreifachen Espresso getrunken und ein ganzes Kilo Zucker hinterher gekippt.

Weil ich nicht still liegen bleiben konnte, raffte ich mich wieder auf und versuchte mich von meinen rasenden Gedanken abzulenken, indem ich mich fürs Bett fertig machte. Es war zwar erst kurz nach elf und Tallulah war nach unserem Treffen vermutlich noch in eine Bar gegangen–

Genauso vermutlich Robin und seine Begleitung. Sie hatte sich mir nicht vorstellen müssen. Dafür hatte ich ihren Namen bereits einmal zu oft in den Wochen nach unserer Trennung in den Schlagzeilen von verschiedenen Nachrichtenanbietern lesen müssen, die sich auf Klatsch und Tratsch spezialisiert hatten. Sie war Tochter eines Investors des Fußballclubs und schien das High Life, das das Geld ihres Vaters wohl mit sich brachte, in vollen Zügen auszukosten. Auf Instagram war sie nicht nur für ihre Partybilder bekannt, sondern auch dafür, die neuste Flamme von Robin Jung zu sein.

Ich hatte ihn dafür hassen wollen. Dass es ihn keine zwei Wochen gebraucht hatte, um unsere Beziehung zu vergessen und mit der nächsten Frau ins Bett zu springen. Aber wenn ich ehrlich war, konnte ich ihn nicht hassen. Auch nicht, wenn er mein Leben zu meiner persönlichen Hölle gemacht hatte.

Die Gedanken abschüttelnd griff ich nach meiner Gesichtsmilch, entfernte das Makeup, das sich nun schwer und drückend anfühlte und schrubbte es ab. Als ich mit einem Handtuch meine Haut abtupfte, schienen mir die Sommersprossen entgegen, die eine leichte Schicht Foundation nur halbwegs abdecken konnte. Die dunklen Flecken, die sich über meine Wangen, Nase, Stirn und eigentlich überall dort abbildeten, wo die Sonne mein Gesicht traf, hatten in meiner Teenie-Zeit für eine Menge Unsicherheiten gesorgt. Mittlerweile hatte ich akzeptiert, dass sie zu mir gehörten und so schnell auch nicht verschwinden würden. Trotzdem gaben sie mir zu häufig das Gefühl, zu süß zu wirken. Zu niedlich. Wie jemand, den Leon aus dem Finanzamt nicht ernst nehmen würde.

Ich putzte mir die Zähne länger als für gewöhnlich und machte mich danach daran, die Kleider in meinem Koffer erneut zu falten. Eigentlich hatte ich nur damit gerechnet, zwei Nächte in München zu bleiben. Doch nachdem Tallulah nach unserem Hauptgang erklärt hatte, sie würde mich gerne einem Galeristen in der Stadt vorstellen, hatte ich direkt eingelenkt, etwas länger zu bleiben. Es war nicht so, als würde ein fester Job auf mich warten, wenn ich nach Hause kam. Ein Vorteil davon, sein eigener Chef zu sein: Freiheit. Ein Nachteil davon, sein eigener Chef zu sein: Immer darüber besorgt sein, ob man genug arbeitete, um die nächsten Monate die Miete zahlen zu können.

Nachdem jedes Oberteil und jede Hose in meinem Koffer ordentlich gefaltet waren, spürte ich das Jucken in meinen Fingern. Wäre ich in meiner Wohnung, würde ich spätestens jetzt nach Ölfarben und einer leeren Leinwand greifen. Das Einzige, was mir half, wenn ich nicht schlafen konnte und das Gedankenkarussell in meinem Kopf zu schnell wurde, war die Blase, in der ich mich befand, wenn ich an einem neuen Werk saß. Es konnten Stunden vergehen, ohne dass ich etwas von der Außenwelt mitbekam. Menschliche Bedürfnisse wie Hunger oder Durst waren mit einem Mal vergessen und erst, wenn ich mich losreißen konnte, spürte ich meine steifen Glieder und die Müdigkeit, die mich danach meist überkam.

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