2 2 | w a s w e n n

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s o p h i e

DIE ROSENSTRÄUCHE WAREN kahl. Anfang März war es für sie noch zu früh zum Blühen. Auch wenn die Temperaturen den zehn Grad nun immer häufiger näher waren als den Minusgraden reichte es nicht aus, um bereits Knospen zu bilden. Im Sommer dagegen würde hier alles voll mit offenen Blüten in allen möglichen Farben sein. Neben dem Skulptieren war das Gärtnern die große Leidenschaft meiner Mutter.

Das weite Anwesen mit dem kleinen Backsteinbungalow war nicht der Ort gewesen, an dem ich aufgewachsen war. Ich war in einem herabgekommenen Sozialviertel großgeworden, in dem sich die Farbe von den Wänden schälte und meine Mutter Angst haben musste, wenn sie nachts von ihrem dritten Job nach Hause kam. Erst als ich älter geworden war, hatte sie sich getraut, mehr von ihrer Zeit in die Kunst zu investieren. Als ich vierzehn geworden war, waren wir in eine andere, weniger für seine Kriminalität bekannte Gegend gezogen. Ein paar Jahre lang hatte sie ihre Stücke ausschließlich auf Handarbeitsmärkten verkauft. Ich erinnerte mich noch genau daran, dass ich die meisten Wochenenden auf einem Klappstuhl verbracht und meiner Mutter beim Verhandeln zugehört hatte. Je älter ich wurde, desto schlimmer wurden diese Morgen. Verkatert schwere Kisten ins Auto zu hieven war nicht unbedingt der Traum eines jeden Teenagers.

Aber wenn ich eins von ihr verinnerlicht hatte, dann war es ihre Unabhängigkeit. In all den Jahren hatte sie sich an keinen einzigen Mann gebunden. Vielleicht war mein Vater, der seine Sachen gepackt hatte, sobald er davon erfahren hatte, dass ich auf dem Weg war, Trauma genug gewesen, um nie wieder eine ernsthafte Beziehung führen zu wollen. Vielleicht war ich aber auch Last genug gewesen.

Kurz nachdem ich mit achtzehn ausgezogen war, hatte sie den Bungalow ergattert. Als ich weggewesen war, war sie nicht mehr von der Nähe der Stadt abhängig gewesen. Sie hatte all die Dinge, die ein wachsendes Kind benötigte, nicht mehr gebraucht. Eine Schule in Laufweite. Freunde, deren Eltern auf mich aufpassen konnten, wenn sie abends in Firmengebäuden putzte.

Sie hatte mir alles gegeben, was ich gebraucht hatte. Ich wünschte nur manchmal, sie hätte es nicht tun müssen.

Ich verschwendete keine Zeit damit zu klingeln. Vormittags schlief meine Mutter aus, vermutlich weil sie es genoss, nicht mehr zum Morgengrauen für einen ihrer Jobs bereits auf den Füßen zu sein. Danach verbrachte sie einige Stunden in ihrem Studio, bevor sie sich mit ihren Freundinnen zum Yoga traf oder die Hände in der Erde ihres Gartens vergrub.

Gerade jetzt hörte ich die Musik, die aus dem angebauten Studio durch den Garten drang. Ich schob die Glastür auf, doch sie schien mich gar nicht zu bemerken. Über einer ihrer Werkbänke gelehnt hatte sie die Hände voller weißem Ton. Ich erkannte eine ihrer typischen abstrakten menschlichen Skulpturen, die bisher nur ein Ohr hatte. Sie hatte einen sehr modernen, minimalistischen Ansatz, arbeitete mit scharfen Kanten und Rundungen, dort wo sie notwendig waren, um Mimik erkennbar zu machen. Sie war so talentiert, dass ich mich schon oft gefragt hatte, was sie alles hätte erreichen können, hätte sie ihr Kunststudium nicht abbrechen müssen. Hätte sie gleich die richtigen Kontakte schließen und spät abends noch auf Vernissagen mit Gleichgesinnten Champagner trinken können. Hätte sie keine Windeln und Schulbücher bezahlen müssen und sich stattdessen häufiger neues Material leisten können.

In den letzten Monaten hatte ich realisiert, dass ich in einer Schuldspirale lebte, die nie wirklich zu enden vermochte.

„Hallo, Mama", grüßte ich sie über die Musik hinweg. Sobald sie meine Stimme vernahm, wandte sie sich zu mir um, ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht. In den letzten Jahren war das alles, wozu ihr Gesicht im Stande war.

„Hallo, mein Liebling", sie putzte sich die verschmierten Hände an einem Lappen ab. „Bringst du mir neue Kunstwerke?"

Ich sah an mir hinab, beinahe als würde ich erst jetzt bemerken, dass ich nichts dabeihatte. Keine einzige Leinwand, die ich in ihrer Werkstatt verstauen konnte. Dabei stand mein ganzes Zimmer voll. Ich hatte die Stunde Autofahrt mit Maries Wagen auf mich genommen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ich hier ein paar meiner Gemälde verstauen konnte.

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