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s o p h i e

J u l i, das Jahr zuvor

MEIN GEBURTSTAG WAR immer etwas Besonderes gewesen.

Als ich klein gewesen war, hatte es Cornflakes aus einer handgetöpferten, bemalten Schale meiner Mutter gegeben, ein volles Glas puren Orangensaft und einige Buntstifte, für die sie Wochen gespart haben musste. Wenn sie sich freinehmen konnte, hatten wir uns in den Stadtpark gesetzt, eine Decke ausgebreitet und Wolkentiere gesucht.

Es war nicht viel, aber es war perfekt.

Heute wohnte ich nicht mehr bei meiner Mutter – es gab keine Cornflakes, dafür aber Bananenbrot mitsamt Geburtstagskerze, das Marie am Morgen Happy Birthday singend in mein Zimmer gebracht hatte. Wir lagen den ganzen Vormittag in meinem Bett, schauten Sex and the City und leerten die Champagnerflasche, die sie gekauft hatte.

Es war nicht viel, aber es war perfekt.

Beinahe.

Eine Sache fehlte.

Ich warf einen nervösen Blick in Richtung der Wanduhr, während ich meinen zweiten Ohrring einsteckte. In einer halben Stunde hatten wir einen Tisch in der Tapasbar, die auch vegane Optionen anbot. Marie und Noah waren bereits vor zehn Minuten aufgebrochen, um die zwei Dutzend Gäste, die ebenfalls kommen würden, nicht allein warten zu lassen.

Er war zu spät.

Um das mulmige Gefühl in meiner Magengegend zu vertreiben, warf ich einen weiteren Blick in den Spiegel. Aber es nützte nichts. Ich war bereits seit einer Stunde fertig und hatte seitdem mindestens fünfmal nach etwas an mir gesucht, das seine Verspätung rechtfertigen würde. Wenn ich noch eine Haarsträhne fand, die nicht gelockt war, dann war es vielleicht nicht ganz so schlimm, dass er noch nicht hier war. Es würde bedeuten, dass ich nicht auf ihn wartete, sondern selbst noch beschäftigt war. Es würde nicht so sehr wehtun, wenn ich die Schuld auf uns beide verteilen konnte.

Ich zog an einem der dünnen Puffärmel meines Kleides. Vielleicht sollte ich mich lieber nochmal umziehen. Etwas ausgefalleneres, gewagteres vielleicht.

Meine Füße trugen mich zu meinem Kleiderschrank. Ohne zu wissen, nach was ich suchte, schoben meine Hände ein Kleidungsstück nach dem anderen beiseite. Ich zog nichts heraus. Suchte nur weiter und weiter.

Dreimal war ich durch meinen gesamten Kleiderschrank gegangen, als ich hörte, wie die Wohnungstür sich öffnete. Ich erstarrte. Vielleicht war es nur Marie, die ihre Handtasche vergessen hatte. Es fühlte sich schrecklich an, dass ich direkt davon ausging, dass es nur meine Mitbewohnerin war und nicht er. Aber mir falsche Hoffnungen zu machen, zu erwarten, dass er nur den Flur herunter war, nur um diese niederschmetternde Enttäuschung zu verspüren, wenn ich bemerkte, dass er es nicht war – ich wusste aus Erfahrung, dass es sich noch so viel schlimmer anfühlte.

„Sophie?"

Mein Herz machte einen Satz. Definitiv nicht Marie.

Ich trat in den Flur, meine Schritte plötzlich sehr viel eiliger. Es war, als würde ich aus einer merkwürdigen Trance erwachen, jedes Mal, wenn er in der Nähe war. Es fühlte sich so gut an, ihn bei mir zu haben. Von ihm gesehen zu werden, wie es sonst niemand tat. Als würde man sein Gesicht das erste Mal nach Monaten voller verhangener Himmel und kalter Luftzüge in der Sonne wärmen können.

Da war er. Nach einem Monat, in dem ich sein Gesicht nur auf Bildschirmen jeglicher Art gesehen hatte, stand er tatsächlich wieder hier. Es fühlte sich so surreal an, dass ich beinahe ins Wanken geriet.

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