Kapitel 1

4.2K 147 48
                                    

𝚃𝚛𝚒𝚐𝚐𝚎𝚛𝚠𝚊𝚛𝚗𝚒𝚗𝚐!

Müde starrt Julien sein Spiegelbild an, müde starrt das Spiegelbild zurück. Dunkelbraune Augen, tiefe Augenringe, leicht verquollene Augen, strähnig fettige Haare... nichts von dem, was Julien in diesem Spiegelbild zusehen bekommt, gefällt ihm. Ganz im Gegenteil, es erinnert ihn erneut daran, wie tief er eigentlich gefallen ist. Warum sich alle sorgen machen. Naja, wenn er ehrlich ist versteht er ihre Sorgen auch. Ehrlich. Aber er hat keinen blassen Schimmer, wie er damit umgehen sollte. Was sollte er ihnen erzählen, und was nicht?

Erschöpft rutscht Julien an der Wand des Badezimmers runter und vergräbt das Gesicht in den Händen. Stumme Tränen der Verzweiflung kullern ihm über die Wangen. Der Halbasiate ist am Ende seiner Kräfte, und keiner weiß es- zumindest denkt er so.
Denn was Ju in diesem Moment nicht mitbekommt, ist dass unten im Wohnzimmer alle über ihn reden. Wie es Julien geht, warum er immer weiter abnimmt, was mit ihm los ist. Schon längst haben die Anderen bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Doch keiner weiß damit umzugehen.
Während die Anderen unten darüber philosophieren wer nun nach oben gehen sollte um nach Ju zu gucken, greift dieser nach einem kleinen Stück Metall. Verzweifelt ringt der Junge mit sich, er will es nicht tun. Ehrlich nicht, aber ihm scheint kein anderer Ausweg. Er weiß sich nicht selber zu helfen, und so setzt er die Klinge an. Sein Arm ist voll mit Narben, stumme Zeugen schlimmer Tage. Manche verheilt, manche noch ganz frisch. Erneut fährt Julien mit der Klinge über seine unschuldige Haut, er hasst sich dafür. Es muss doch einen anderen Ausweg geben. Dass es so nicht weiter gehen kann, das hat Ju schon lange begriffen. Aber er hat keinen blassen Schimmer wie er sich da raus holen kann. Und so schneidet das kleine Stück Metall erneut seinen Arm auf. Leicht zischt Julien auf, als das Blut über den Arm läuft. Immer immer mehr Blut bahnt sich den Weg an seinem Arm entlang.

Ein Klopfen holt Ju zurück ins hier und jetzt. Sofort bereut er was er getan hat, aber jetzt ist es zu spät. Erneut klopft es. "Ju?" Ertönt Rezos Stimme nach innen. Es kommt Julien so vor, als würde das so eben ausgesprochene Wort als Echo durch den Raum wabern. Wieder klopft es, langsam aber sicher verzweifelt Julien immer mehr. Verständlich, immerhin drohen seine, mit Mühe aufrecht erhaltenen, Mauern einzustürzen. Rezo darf das nicht sehen, auf gar keinen Fall. Rezo darf Julien nicht so sehen, da ist der Halbasiate sich sicher.
So schnell es geht beseitigt Ju alles, was von seinem stillen Kampf übrig geblieben ist, und öffnet schlussendlich die Tür. Sofort wird er von Rezo in eine Umarmung gezogen. Jus Panik level schießt in die Höhe, das hier ist keine normale freundschaftliche Umarmung. Nein jenes ist eine Umarmung, die mehr als tausend Worte spricht. Julien fühlt sich ertappt, so als hätte Rezo plötzlich alles durchschaut. Zumindest scheint es Ju so.

Die Wahrheit ist, dass Rezo keine Ahnung hat was hier soeben passiert ist. Ebenso wenig ahnt Ju wie viele Sorgen sich sein bester Freund tagtäglich um ihn macht.
"Ju was ist denn los?" Fragt Rezo vorsichtig. So vorsichtig wie eine Mutter mit ihrem Neugeborenen spricht.
"Nichts" Jus Stimme bröckelt und verheißt das genaue Gegenteil. In diesem Moment gesteht Julien sich ein, dass er garnicht weiß ob er vielleicht doch möchte dass Andere erfahren was in ihm vorgeht. Ein bisschen Unterstützung wäre sicherlich nicht schlecht. Und so ringt Ju minutenlang mit sich, ob er Rezo nicht doch die Wahrheit sagen sollte. Letztendlich entscheidet er sich aber doch dagegen. Überzeugt davon, dass die selbst errichteten Mauern schon halten werden.

Behutsam greift Rezo nach Juliens Hand und zieht in mit nach unten. Mui, Jus Mutter, hat bereits liebevoll das Abendessen vorbereitet. Und alle haben sich, wie es sich gehört, in der Küche zum Essen eingefunden. Alle außer Ju und Rezo. Rezos Fehlen fällt allerdings mehr auf, als das vom Halbasiaten. Es haben sich bereits alle daran gewöhnt so gut wie jede Mahlzeit ohne Julien einzunehmen. Er isst lieber alleine, oder garnicht. Jenes ist Juliens Team, den Freunden und der Familie schon lange klar. Immerhin geht es nicht erst seit vorgestern so.
Um so mehr sind sie erstaunt, als nicht nur Rezo erscheint, sondern auch Julien. Eine seltene Rarität, den Jungen mal in der Küche anzutreffen. Ju ist sichtlich angespannt, jenes fällt sofort allen auf. Wüssten sie, was sich in Jus Kopf abspielt, würden sie sicherlich Verständnis dafür haben, denkt Julien. Sein Kopf ist bereits am rattern. Er denkt an die vielen Kalorien, und wie diese ihn negativ beeinflussen werden. Immerhin sind es hunderte Kalorien, soviel darf er einfach nicht essen. Sonst wird er dick und fett, dann mag ihn niemand mehr.
Quatsch er ist schon längst dick und fett, erinnert ihn seine innere Stimme. Ein bisschen hungern wird ihm schon nicht schaden. Ja aber er hungert doch schon seit Wochen, verzweifelt versucht Julien das Steuer an sich zu reißen, noch die Kurve zu kratzen. Ohne Erfolg, er hat sich schon wieder viel zu sehr im Nebel seiner Essstörung verfangen. So wundert es ihn kaum, dass er versucht aus der Küche zu flüchten. Jedoch ohne Erfolg, denn Rezo hindert ihn daran.
"Vergiss es Ju, du musst wenigstens einmal am Tag was essen" flüstert sein bester Freund ihm zu.
"Ich hab schon gegessen" murmelt Julien zurück. Ein strenger Blick Rezos folgt direkt, Ju ist bewusst das wahrscheinlich alle hier wissen, dass er heute bisher nichts weiter als leere Kalorien in sich geschaufelt hat. Tomaten, Gurken, Salat, ja alles ohne Kalorien, dafür eine beachtliche Menge.

Resigniert setzt Julien sich an den Tisch dazu. Fake lächeln sitzt, denkt er zumindest. Julien hofft einfach, dass die Mauern halten und greift nach der ersten Scheibe Brot. Mehr als eine dünne Lage Butter und eine kleine Scheibe Käse ist echt nicht drin. Mit gequältem Gesichtsausdruck beißt Ju ab. Er bekommt den Bissen kaum runter, so trocken ist sein Hals auf einmal. Die besorgten Blicke ignorierend, beißt er erneut ab. Nach der Hälfte der Brotscheibe ist Schluss für ihn, mehr schafft er nicht.
Ihm ist kotzübel als er an der Teetasse nippt. Stumm beobachtet er, wie die anderen bereits ihre zweite Scheibe verdrücken, und dabei auch noch fröhlich lächeln. Es sind Momente wie diese, in denen Ju wieder einmal daran erinnert wird wie tief er gefallen ist. Reumütig denkt er an vergangenen Sommer zurück, damals noch dachte er alles würde endlich bergauf gehen. Immerhin hatte er den Kanal stillgelegt, und langsam aber sicher kehrten auch die Kräfte zurück.
Und jetzt? Jetzt hockt er hier vor der Kloschüssel und würgt sich mal wieder die Seele aus dem Leib.

𝚂𝚘, 𝚍𝚊𝚜 𝚠𝚊𝚛 𝚍𝚊𝚜 𝚎𝚛𝚜𝚝𝚎 𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕. 𝚆𝚒𝚎 𝚑𝚊𝚝 𝚎𝚜 𝚎𝚞𝚌𝚑 𝚐𝚎𝚏𝚊𝚕𝚕𝚎𝚗? :)

hold my hand // juzoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt