Hell-, Cyan- und Ultramarinblau

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Es war 7:45 Uhr. Mia, Leander und ich standen im Personalzimmer in der Praxis. Luis würde in etwa einer Stunde kommen. In 15 Minuten startet der erste offizielle Tag unserer Praxisgemeinschaft. Ich war wirklich, wirklich aufgeregt. „Also, in 15 Minuten ist es soweit. Habt ihr noch irgendwelche Fragen? Muss noch irgendwas geklärt oder gemacht werden?", fragte ich. „Nein, ich glaube wir sind bereit.", meinte Leander. „Luis kommt gegen 9. Der musste gestern Abend schon etwas Arbeit leisten. Mia, ich hoffe es ist okay für dich, dass du die erste Stunde alleine vorne bist.", „Das geht schon klar Chefs. Ihr habt sowieso Beide in der Stunde nur jeweils eine Vorsorgeuntersuchung. Leander du um 8:30 Uhr, ich schick dir gleich die Akte digital. Und Paulo, dein Patient kommt um 8:10 Uhr. Die Akte müsste schon auf deinem Computer angekommen sein.", „Vielen Dank Mia. Wissen wir denn was wegen dem Angstzustand?", wollte ich wissen. „Bei deinem Patienten nicht wirklich. Er war nur glaube ich einmal in dem Krankenhaus, in dem ich mal gearbeitet habe. Da war er aber noch ein Kind. Damals schien er sehr teilnahmslos, so als würde er bei medizinischem erstarren. Ich bin mir aber nicht einhundertprozentig sicher, ob er es wirklich war und wenn ja, ob ich mich richtig erinnere.", „Alles klar. Das wird schon. Und wie sieht es mit Leanders Patienten aus?"
Wir wollten immer allen Anderen mitteilen wie ängstlich oder unsicher unsere Patienten sein würden, die wir hatten. So konnte sich jeder für den Fall der Fälle gut darauf einstellen, falls eine zusätzliche Hand gebraucht wurde. Die ersten Tage wollten wir uns erstmal jede Stunde updaten und immer schauen welche Patienten Leander und ich in der nächsten Stunde haben würden.
„Ein kleiner Junge der von seinem ehemaligen Kinderarzt an uns empfohlen wurde. Ich glaube die Ärztin war Dr. Lichtenfeld?", „Ah Ja. Ich erinnere mich. Ich hatte mit ihr telefoniert, als sie von unseren Plänen gehört hatte. Sie war sehr begeistert und meinte, dass sie auch ab und zu Kinder hat, die mit medizinischen Sachen absolut nicht zurecht kommen. Bei den meisten schafft sie es selbst und kann ihnen sehr gut helfen, aber zwei, drei ihrer Patienten sind extrem verunsichert. Sie hatte mich gefragt, ob es möglich wäre diese zu mir zu überweisen. Ich hatte ihr zugesagt.", antwortete Leander sofort. „Okay gut. Dann würde ich sagen fangen wir jetzt offiziell an. Mia schließ bitte die Tür auf. Ach, eine Sache noch. Falls Riccardo von oben ruft oder anruft, sagt mir bitte Bescheid. Ich habe mit ihm und Marilena einen Deal.", „Gut. Dann wünsche ich uns allen ganz viel Gelassenheit und Freude heute.", meinte Mia und ging zur Praxistür.
Ich und Leander gingen jeweils in unsere Behandlungsräume. Ich fuhr meinen Computer hoch und setzte mich in meinen Schreibtischstuhl. Mir blieben noch etwa 15 Minuten. Zuerst sah ich mir die Patientenakte meines ersten Patienten an. Er hieß Simon Lange und war 19 Jahre alt. Bisher stand noch nicht wirklich viel drin. Keine Operationen. Ein Krankenhausaufenthalt und kaum nennenswerte Erkrankungen. Bei uns in der Praxis kamen noch zwei Felder und eine Markierung hinzu. Diese waren logischerweise noch frei.
Die Markierung zeigte einen bestimmten Grad an. Wir würden unsere Patienten, sowohl Leander als auch ich, in drei Kategorien einteilen. Hellblau waren alle die markiert, die zwar durchaus sehr ängstlich waren, aber wir konnten diese Patienten mit viel Zureden sehr gut alleine durch die Untersuchungen führen. Sie waren sehr oft einfach wirklich ultra nervös. Die zyanblau und ultramarinblau markierten waren die, die man wirklich als Angstpatienten bezeichnete. Zyanblau stand für die, die wirklich Angst hatten und es eine große Überwindung kostete überhaupt hierher zu kommen. Bei diesen Patienten standen alle Anderen Praxismitglieder auf Bereitschaft. Ab und zu konnte es auch passieren, dass sie ausflippten. Es war aber eher die Ausnahme. Zu diesen Leuten gehörte zum Beispiel meine Freundin Lilly. Dadurch, dass es ihnen so schwer fiel einen Termin zu machen, riefen wir sie meistens eher an, wenn es um Vorsorgetermine ging. Marilena war Ultramarinblau. Diese Patienten kamen meist schon fast mit einer Panikattacke bei uns an. Sie erforderten höchste Aufmerksamkeit von allen. Sie hatten zu 90% ein Trauma erlebt und benötigten enorm viel Geduld und Einfühlungsvermögen. Man durfte keine unüberlegten Schritte machen und musste wirklich jedes noch so kleine Detail ankündigen. Sie hatten meist, wie Marilena, schon vor den kleinsten Sachen, wie Fieber messen, Angst.
Ich markierte Simon erstmal als Zyanblau, basierend auf den Berichten von Mia. Später konnte ich das immer noch ändern.
Über dem ersten neuen Feld stand Panikverursacher. Da schrieben wir alles rein was unseren Patienten Angst machte. Sei es das bloße Fiebermessen, Bauch abtasten, einen Zugang legen oder Spritzen im Allgemeinen. Aber auch Aktionen wie Rücken anfassen, bestimmte Sachen, die man nicht ansprechen sollte, oder Geräusche standen in diesem Feld.
Das zweite Feld war dazu da, reinzuschreiben was unseren Patienten half. Das konnte von schlichtem Zureden, loben, oder Atemübungen, bis zu Verdunkelung des Zimmers, Decken oder Musik reichen. Alles was ihrem Wohlbefinden half und die Situation auch nur annähernd erträglicher machte, wurde hier reingeschrieben.
Apropro Patientenakten, ich musste mal in Lillys reinschauen. Ich hatte schon mehrfach vergeblich versucht von ihr selbst zu erfahren, wer ihr Hausarzt oder ihre Hausärztin ist. Doch sie hat es mir nie gesagt. Gezwungenermaßen musste ich dann etwas durch ihre Sachen schnüffeln, da ich den leisen Verdacht hatte, dass sie schon mehrere Jahre nicht mehr beim Hausarzt gewesen war. Und tatsächlich; der Hausarzt bei dem sie als Patientin war, der war seit 5 Jahren in Rente und die Praxis hatte geschlossen. Das wusste ich, da er vor vielen Jahren mal im Krankenhaus gearbeitet hatte und auch nach seinem Weggang noch ab und zu dort ein und aus ging um seine Patienten zu besuchen, wenn diese im Krankenhaus lagen. Ich kannte ihn nicht wirklich gut, aber um zu wissen, dass seine Praxis nicht mehr existierte, reichte es allemal. Jedenfalls hatte ich zu ihm Kontakt aufgebaut und nach meinen Erklärungen hatte er mir Lillys Akte geschickt.
Ich öffnete sie und las aufmerksam was da drin stand. Hm, vor acht Jahren, also mit 17 hatte sie einen längeren Krankenhausaufenthalt mit zwei Operationen. Der Grund für ihren Aufenthalt war nicht direkt zu lesen. Man musste ihn mit einer erneuten Bestätigung ersichtlich machen. Das wollte ich aber nicht, denn diese extra Sicherung gab es nur bei sehr persönlichen oder vertraulichen Ursachen. Es war definitiv etwas, das ich von Lilly erfahren wollte, wenn sie dazu bereit war. Klar hätte ich die Möglichkeit es jetzt zu wissen, aber das wäre in meinen Augen ein schwerer Vertrauensbruch zwischen ihr und mir, zumal es zum jetzigen Zeitpunkt keine dringende Notwendigkeit dafür gab. Was ich jetzt lediglich wusste war, dass sie tatsächlich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Trauma erlebt hatte und ich mit meiner Vermutung, dass sie keine guten Erfahrungen mit Ärzten gemacht hatte, richtig lag, denn vor ihrem Aufenthalt im Krankenhaus war sie einigermaßen regelmäßig beim Arzt gewesen, so wie es eben eine Person ohne Arztphobie tat, wenn sie ab und zu Termine wirklich verpennte. Doch nach diesem Krankenhausaufenthalt stand nichts mehr. Keine Untersuchung, keine Kranheit, absolut gar nichts; und das seit 7 Jahren. Das bedeutete an der Schließung der Arztpraxis des Kollegen konnte es nicht liegen, denn diese fand ja erst zwei Jahre später statt. Doch auch für diese zwei Jahre war kein einziger Eintrag in der Akte meiner Freundin zu finden. Das konnte heikel werden, denn ich musste definitiv eine Vorsorgeuntersuchung bei ihr machen. Sieben Jahre waren einfach wirklich zu lange.
Auf einmal bekam ich eine Mitteilung in unserem praxisinternen Mitteilungsprogramm vom Empfang: „Simon ist da."

Ich, Lilly und MenaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt