Keine Kontrolle

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P.O.V. Marilena:
Angst. Ich hatte unglaubliche Angst. Das konnte mir Paulo doch nicht antun. So hinterhältig und gemein. Ich hatte das Gefühl keine Kontrolle über mein Leben zu haben. Ich durfte nicht in die Schule gehen. Ich musste bei Paulo wohnen. Es wurden einfach Sachen für mich entschieden, die ich garnicht wollte. Das gefühlt einzige, was noch unter meiner Kontrolle lag, war meine Nahrungsaufnahme und selbst die war nicht komplett in meiner Hand. Wenn ich dann auch noch Angst- oder Panikattacken bekomme, dann brauchte ich ein Kontrollventil; etwas, dass ich beeinflussen konnte. Und das ist dann halt die Tatsache, ob ich überhaupt irgendwas esse oder eben nicht.
Ich hatte zwar endlich aufhören können allgemein möglichst Nichts zu essen, aber in Extremsituationen kehrte ich wieder zurück in meine schädlichen, das war mir nur allzu bewusst, Muster. Nur mit dem Unterschied, dass ich weiter alles mögliche trank. Fragt mich nicht wieso. Ich weiß es absolut nicht, aber es war eben so. Deshalb gab mir Paulo immer irgendeine Limo oder was anderes kalorienreiches, wenn ich eben wieder völlig zumachte.
Das zeigte wie groß seine Sorgen um mich waren. Er hasste dieses, wie er es nannte, „zuckerhaltige Zeug". Und trotzdem gab er es mir.
Jetzt saß ich jedenfalls hier. Wobei, nein, sitzen ist das falsche Wort. Ich versuchte mit aller Kraft aus Leanders Armen raus zu kommen. Da das nicht funktionierte, packte ich kurzerhand die Glasflasche mit der Limo und kippte diese voller Trotz über Leanders Kopf aus. Er konnte mich mal mit seinen perfekten Haaren und der unendlichen Freundlichkeit. Jetzt floss über sein Gesicht rosafarbene, klebrige Limonade. Aber das hatte ihn anscheinend nicht im geringsten gestört. „Und was hat dir das jetzt gebracht?", fragte er mich trocken. Natürlich wusste ich darauf jetzt keine Antwort. Ganz kurz hörte ich mit meinem Widerstand auf.
Doch nur Sekunden später fing ich wieder an. „Lass mich los! Hau ab! Ich will hier weg!", schrie ich Leander an und prügelte regelrecht auf seinen Oberkörper ein. Ich war so unglaublich verzweifelt und fühlte mich verraten. Außerdem machte es mich wahnsinnig, dass er so ruhig blieb. Er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Egal wie sehr ich ihm wehtat, egal wie extrem ich ihn provozierte, es passierte nichts. Ganz im Gegenteil, er hatte sogar Mitgefühl und Verständnis für mich.

„Marilena, ich weiß, dass du dich unglaublich verraten fühlst. Und dazu hast du auch all dein Recht. Ich kann das verstehen, ob du es glaubst oder nicht. Aber das was du da gerade machst, bringt dich nichtmal einen Zentimeter weg von hier." Ich hörte auf ihn zu malträtieren. Stattdessen schmollte ich jetzt und weinte. „Hey, kein Grund zu weinen. Ich bin nicht sauer. Dann dusche ich halt gleich. Mir ist lieber, dass du mich fünfmal mit Limo überschüttest, als das du dich verkriechst."
Aber die Untersuchung wollte er wahrscheinlich trotzdem machen. Weil wieso sollte auch nur ein einziges Mal Jemand das tun, was ich wollte. Alle schauten mich an.
Oh Mann. Kann sich bitte jetzt ein Loch auftun indem ich verschwinden kann? Ich vergrub mein Gesicht in Leanders Brust. Er merkte wohl mein Unbehagen, denn nur kurz danach, ich war immer noch am schluchzen, flüsterte er mir ins Ohr: „Vorschlag Mar; du kannst jetzt abhauen und dich irgendwo verstecken, wenn du willst. Bleib aber bitte im Haus. Ich esse noch hier mit den Anderen fertig, räume mit auf und schau dann kurz nach deinem Bruder und Lilly. Wenn ich damit fertig bin, dann reden wir, ja?"
Ich nickte zustimmend. „Okay. Ich hab dich lieb Marilena.", raunte er mir zu. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich stand schnell auf und rannte vom Tisch weg.
Ich verschwand in mein Zimmer, ließ die Tür aber einen Spalt offen und lauschte worüber die anderen sprachen. „Was ist nur in Marilena gefahren? Die ist ja komplett ausgerastet.", empörte sich Mia über meinen Ausraster. „Das passt schon. Ich geh einfach kurz duschen und zieh mich um. Paulo hat bestimmt noch ein extra Paar Praxiskleidung im Schrank." In dem Moment ging die Haustür auf. Ich sah wie Paulo und Lilly rein kamen. Lilly stützte sich an Pau ab und er schaute Leander sichtlich verwirrt an.
„Was ist denn mit dir passiert, und wo ist meine Schwester?" Ich wurde wieder nervös. Was wenn mein Bruder sauer auf mich war, weil ich Leander mit Limo übergossen hatte? Mist, Mist, Mist! Was hatte ich nur getan? Wieso musste eigentlich ich immer so peinliche Aktionen veranstalten? Jetzt würde Paulo mich bestimmt hassen. „Ähm... deine Schwester hat mich mit ihrer Erdbeerlimonade überschüttet. Und jetzt, glaube ich, ist sie in ihrem Zimmer.", erklärte Leander ihm sein Aussehen.
Paulo schaute kurz verwirrt, doch dann zuckten seine Mundwinkel nach oben und er fing an lauthals zu lachen. Auch Leander grinste. Warte, Stop. Hä? Wieso lachten die Beiden? „Meine Schwester, hat dir eine Limoflasche über den Kopf geschüttet?", fragte Pau ungläubig, und konnte nicht aufhören zu lachen.
Mein Bruder war nicht sauer. Im Gegenteil, er fand es sehr lustig. Meine Nervosität nahm ab. Wobei, nein, doch nicht. Der Termin stand ja immer noch. Okay, nein, ich war ganz und garnicht ruhig. Nie im Leben würde ich das überstehen. Wie auch? Leander hatte Recht. Es war so ungefähr das Schlimmste was ich mir vorstellen konnte. Angst, ja, Angst war es was ich jetzt fühlte. Was sollte ich nur tun? Erstmal setzte ich mich hinter die Tür. So konnte ich sie erstmal offen lassen, um zu hören was die Anderen sagten. Sobald aber Jemand reinkommen wollen würde, konnte ich die Tür schnell zu knallen.
„Okay, also Lilly hat sich die Bänder an ihrem Fuß gedehnt. Ich tape ihr das kurz in meinem Büro. Und ich glaube du solltest wirklich duschen gehen. In meinem Kleiderschrank hab ich noch ne weiße Jeans und ein Praxis-Polo. Die leg ich dir sofort ins Bad.", meinte Paulo zu Leander. „Ja, das klingt nach nem Plan. Danke."
Paulo kam mit Lilly an meiner Tür vorbei und ich hielt kurz die Luft an, damit sie mich nicht bemerkten. Etwa 10 Minuten später ging Leander ins Bad und duschte. Jetzt waren nur noch Mia und Luis im Wohnzimmer. Den Geräuschen nach zu urteilen, räumten die Beiden das Geschirr weg und redeten miteinander.
„Was war denn da mit Marilena los? Das ging wirklich zu weit.", empörte sich Mia schon wieder über mich. Aber sie hatte ja Recht. „Ich finde du gehst zu weit. Versetz dich doch mal in ihre Lage. Was ist das Schlimmste was du dir vorstellen kannst? Wovor hast du am meisten Angst?", fragte Luis Mia. „Ähhhh... Zu ertrinken? Ich habe große Angst in Wasser zu gehen, wo ich nicht stehen kann.", antwortete Mia hörbar verwirrt.
„Und jetzt stell dir vor Jemand würde dich zwingen in eben dieses tiefe Wasser zu gehen; da wo du nichtmehr stehen kannst, und du musst schwimmen.", „Aber das kann man doch nicht vergleichen. Ich mein es ist doch klar, dass ihr Niemand mutwillig wehtun will. Das weiß sie ja auch. Trotzdem flippt sie so aus." Ich hörte wie die Spülmaschine eingeräumt wurde. „Und du weißt, dass dich Niemand ertränken will. Und trotzdem hast du eine riesige Angst davor.", „Aber da geht es ja auch um Leben und Tod im Ernstfall.", „Und genau dieses Gefühl, dass du in dieser Situation fühlen würdest, das hat Marilena eben wenn sie in die Nähe von Medizinischem kommt."
Ich musste lächeln. Luis verstand was in mir los war. Aber ich verstand auch Mia. Angst zu haben, zu ertrinken; das war schon irgendwie realer, als meine Arztphobie. „Jetzt wo du das so sagst; ich glaube du hast Recht. Es ist nur so schwer vorstellbar für mich.", bemerkte Mia. Mittlerweile saßen sie und Luis, glaube ich, im Wohnzimmer.
„Und das ist auch völlig verständlich. Wir kennen diese Situation nicht. Das war für uns Beide bis vor ein paar Wochen noch völlig unbekannt. Und ganz ehrlich, nachvollziehen kann ich es auch nicht immer. Das müssen wir auch nicht. Wir müssen nur dabei helfen es erträglicher zu machen, die Patienten zu beruhigen, für sie da sein. Und wir unterstützen Paulo und Leander. Dafür sind wir da."
„Hmm... Aber woher weißt du das dann alles, wie sich das anfühlt?", „Ich habe Leander vorgestern mal gefragt, weil ich versuchen wollte es zu verstehen. Er hat mich gefragt was meine größte Angst ist und es mir dann genau so erklärt, wie ich es dir gerade erklärt habe. Das hat mir wirklich geholfen.", „Und, dass du ein enormer Empath bist." Luis schien zu lachen. „Jha. Das hilft mir wahrscheinlich auch bei meiner Arbeit. Jetzt aber runter. Die Sprechstunde fängt in einer halben Stunde wieder an." Ich hörte wie Mia und Luis die Wohnung verließen und sich die Tür schloss.
Die Angst kroch wieder langsam in mein Hirn. Die Sprechstunde fing gleich an und Anfang hieß, dass sie in drei Stunden vorbei sein würde. Das bedeutete wiederum, dass in drei Stunden mein Termin war. Nein. Das durfte nicht sein. Ich merkte wie die Panik mein Denken übernahm. Meine Hände fingen an zu zittern. Nein, nein,nein! Bitte keine Panikattacke. Das durfte jetzt nicht passieren.
Luft. Ich brauchte Luft. Aber ich bekam keine in mich rein. Ich atmete immer schneller. Alles drehte sich und wurde unscharf. Luft, ich brauchte ganz dringend Sauerstoff. Aus ganz weiter Ferne hörte ich wie Jemand meinen Namen rief. Ganz leise rief Jemand: „Marilena!", und schob meine Tür auf, womit auch ich weggeschoben wurde.

Ich, Lilly und MenaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt