Kapitel 7

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Hallo Devin,

ich hoffe, du und Kyle seid gut in eurem Rudel angekommen und konntet euch erholen. Grüße auch Kyle von mir. Ich hatte dir ja bereits bei unserem Gespräch in der Wolfsburg angedeutet, dass du nun so etwas wie ein lebender Heiliger bist. An so jemanden haben unsere Mitwölfe gewisse Erwartungen. Ich musste schon mit der Autorität meines Amtes drohen, obwohl ich das noch nie getan habe, damit man dich im Rudel leben lässt statt hier in Lunapolis. Aber da der Ältestenrat nicht locker ließ in dieser Frage, musste ich einem Kompromiss zustimmen. Bitte sieh es als Hilfe an, dass du auf deine Rolle vorbereitet wirst. Ob du willst oder nicht, bist du jetzt im Haifischbecken der Politik und man wird dich genau beobachten. Ich entschuldige mich schon im Voraus dafür, dir Melvin Sutton geschickt zu haben. Ich weiß, er ist ein Langweiler, humorlos und schrecklich formell, aber auch einer unserer Besten auf dem Gebiet der Diplomatie. Wenn du erst einmal einige Zeit mit ihm verbracht hast, wirst du verstehen, wie sehr ich dich und die ungezwungenen Tage auf der Wolfsburg vermisse ...

Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder und – oh, ich freue mich jetzt schon darauf, dich das erste Mal in deiner neuen Robe zu sehen.

Viele Grüße

Jessie

Der letzte Satz ließ Devin misstrauisch werden. Er kannte Jessies schrägen Sinn für Humor.

»Na, was schreibt er?«, fragte Kyle.

»Im Grunde das Gleiche, was uns dieser Melvin gesagt hat. Und er lässt dich schön grüßen.«

Devin entging nicht, dass seine Mutter mit scharfen Ohren jedes Wort verfolgte. Ein Schreiben des Patriarchen an den eigenen Sohn war schließlich eine Sensation. Er ahnte, dass der Brief und sein Inhalt im lokalen Tratsch bald noch sensationeller sein würden – nicht unwesentlich befeuert von seiner Mutter.

Er griff nach dem Karton.

»Ich geh das mal anprobieren.«

Er hätte die Robe auch unten überziehen können, aber nach Jessies Andeutungen hielt er es für ratsamer, sich erst einmal alleine darin zu begutachten. In seinem Zimmer breitete er die Robe vorsichtig auf dem Bett aus. Das Ding war in den Farben der Mondwölfe gehalten, durchgängig dunkelgrün, von den Schultern aus gingen breite braune Balken nach unten. Auf der Brust war mit silberdurchwirkten Fäden das Symbol der Luna eingestickt: zunehmender Mond, Vollmond, abnehmender Mond, die einander berührten. Dazu gab es noch einen breiten Stoffgürtel in der gleichen Farbe.

»Die spinnen doch!«, murrte er leise vor sich hin und schlüpfte hinein. Kurz verhedderte er sich in der Kapuze, dann kämpfte er mit dem Verschlusssystem des Gürtels, aber schließlich war es geschafft. Todesmutig warf er einen Blick in den Spiegel.

»Ich bringe Jessie um!«

Die Robe ging bis zu den Knöcheln und war nicht gerade, sondern zu den Füßen hin etwas breiter geschnitten. In Verbindung mit dem silbernen Gürtel erinnerte ihn die untere Hälfte dieser Robe fatal an den alten Glockenrock seiner Mutter, der schon seit einigen Jahren ein tristes Dasein in ihrem Kleiderschrank fristete.

Vielleicht bin ich zu kritisch. Mal sehen, was die anderen sagen.

Mit gemischten Gefühlen ging er vorsichtig die Treppe hinunter, immer darauf achtend, nicht auf den Saum zu treten und sich zu Tode zu stürzen. Er atmete tief durch und betrat die Küche. Seine Mutter bekam große Augen, war sofort hin und weg, das war deutlich zu sehen. Kyle begann hysterisch zu lachen, sein Vater blickte kurz von seiner Zeitung hoch und meinte trocken: »Schickes Kleid, Devin!«, was Kyle zu einer neuen Lachsalve veranlasste.

»Trevor!«, zischte seine Mutter. »Lass dir nichts einreden, Devin, du siehst toll aus! So ... so würdevoll!«

Er drehte sich zu Kyle.

»Wie sehe ich aus?«

»Zieh mal die Kapuze auf!«

Zögernd gehorchte Devin und schaute Kyle misstrauisch an.

»Wie der uneheliche Sohn von Gandalf und Obi-Wan Kenobi!«, stieß Kyle hervor und begann erneut zu wiehern.

Sein Vater tat immer noch, als würde er Zeitung lesen, aber hatte ein breites Grinsen im Gesicht.

»Das reicht! So gehe ich nicht unter die Leute! Ich mache mich doch nicht lächerlich!«, fauchte Devin und wollte sich aus der Robe schälen.

»Einen Augenblick, junger Mann! Du wirst das schön anbehalten!«, schnitt Veronicas Stimme in ihrem »Ich bin deine Mutter, wage es nicht zu widersprechen«-Tonfall durch den Raum. »Erst will ich Fotos machen!«

Jeder Versuch von Devin, sich dagegen zu wehren, wurde im Keim erstickt. Auch hier war Veronica sehr gründlich. Er wurde von allen Seiten abgelichtet, etwas von unten herauf fotografiert, dann sollte er nachdenklich in die Ferne schauen und so weiter. Zum Abschluss wurde er auf einer der unteren Stufen der Treppe positioniert und sollte auch dort verschiedene Posen einnehmen.

Kyle hatte die Prozedur amüsiert verfolgt und meinte spöttisch: »Hast du vielleicht noch einen Zauberstab oder ein Laserschwert? Dann könnten wir das Bild für deine Autogrammkarten nutzen.«

»Jetzt ist Schluss!«, tobte Devin und wühlte sich wütend aus der Robe heraus. Seine Mutter ließ ihn gewähren und begutachtete zufrieden lächelnd ihre Fotos.

Am nächsten Morgen stopfte er die Robe in eine Tüte, bevor er sich mit Kyle auf den Weg zu seiner ersten Unterrichtsstunde bei Melvin machte. Kyle verkniff sich weitere Bemerkungen, nachdem er am frühen Morgen nur knapp einem von Devins schwarzen Lederschuhen entkommen war, den dieser ihm nachgeworfen hatte. Dabei hatte er nur gefragt, ob dies denn »adäquates Schuhwerk« sei, Pumps würden doch viel besser zu dem Kleid passen.

Die nächsten Tage zehrten an Devins Nerven. Er erfuhr mehr, als er je wissen wollte, über Tischmanieren, korrekte Verwendung des Bestecks, Auswahl des richtigen Glases abhängig vom gereichten Getränk bis hin zum ordnungsgemäßen Zerlegen eines Hummers. Daneben hagelte es Lektionen in Etikette, nichtssagender, aber höflicher Wortwahl und unverfängliche, politisch korrekte Aussagen. Dabei hatte Melvin eine unendliche Geduld und stoische Gelassenheit.

Kyle war zunächst erbost, als ihm der Älteste mit wohlgesetzten Worten, aber unmissverständlich deutlich machte, dass er nur der Gefährte des Gesegneten sei und man zwar von ihm erwartete, bei offiziellen Anlässen präsent zu sein und gut auszusehen, aber dass er ansonsten vorzugsweise den Mund zu halten hatte. Doch er nutzte das schamlos aus, indem er Melvin davon überzeugte, bei den weiteren Schulungen nicht mehr anwesend sein zu müssen, damit sich dieser bei seinen Bemühungen »voll und ganz auf den Gesegneten konzentrieren« könne. Devin hatte ihn daraufhin als Verräter beschimpft und den restlichen Abend lang nicht mehr mit ihm geredet. Anschließend hatte Melvin sich auf die Eigenheiten der diversen Rudel, Bündnisse und Feindschaften konzentriert und ihn damit endlos gelangweilt.

Seine Eltern dagegen waren begeistert, dass Devin gute Manieren lernte, und redeten auf ihn ein, auf jeden Fall wieder hinzugehen, als er einmal meinte, allmählich die Nase vollzuhaben. Ihre Begeisterung erhielt einen ziemlichen Dämpfer, als Devin bei einem festlichen Abendessen zuhause sich in hochnäsigem Ton bei seiner Mutter darüber beschwerte, dass sie die falschen Gläser für den servierten Rotwein ausgewählt hatte.

»Das ist ja ein Riesling-Glas! Für diesen Wein musst du doch ein Bordeaux-Glas nehmen! Durch den voluminösen Rauminhalt hat der Wein erst die nötige Freiheit, sich zu entfalten. Die Form unterstützt die typischen Merkmale eines großen Weines und bringt sie zur Geltung. Die Duftmoleküle verdichten sich im verengenden Glaskamin und entfalten sich damit expressiv über den Rand des Kelches. Wir leben ja schließlich nicht in einer Höhle!«, dozierte er herablassend in bester Imitation von Melvin. Er hatte alle Mühe, ernst zu bleiben, während seine Eltern ihn mit offenem Mund anstarrten und Kyle ihm unter dem Tisch ans Schienbein trat. Danach waren sie deutlich weniger angetan von weiteren Etikettelektionen.

Wolfswandler III: ZeitenwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt