Kapitel 10

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Die eigentliche Zeremonie am Abend verlief wie geplant. Die beiden Rudel versammelten sich in einer Halle, Finley Baldwin sprach einige Worte – nein, eher viele, sehr viele Worte, Devin gab ein kurzes, ziemlich nichtssagendes Statement ab, das Melvin vorab mit ihm bis zum Erbrechen geübt hatte, dann traten die einzelnen Wölfe vor und baten um Aufnahme in das Rudel von Finley Baldwin.

Nachdem alles vorüber war, kam der Alpha auf ihn zu.

»Gesegneter, danke, dass Ihr unsere Feier mit Eurer Anwesenheit beehrt habt. Ich weiß das sehr zu schätzen, gerade in dieser turbulenten Zeit, die so viele Veränderungen mit sich bringt und auch natürlich Unruhe, die wir alle eigentlich gar nicht gebrauchen können. Aber wie schon Benjamin Franklin sagte ...«

Doch Devin hörte seinem Geschwätz gar nicht mehr richtig zu. Seine Toleranzgrenze für Bullshit war für einen Tag schon deutlich überschritten. Er bemühte sich um ein halbwegs interessiertes Gesicht und nickte immer mal wieder. Der Einzige, der die Reden von Finley Baldwin interessant fand, war Finley Baldwin selbst.

»... und darum freue ich mich über Euren Besuch, ist es doch auch ein Zeichen, dass ihr unsere Ansprüche unterstützt. Vielen Dank, Gesegneter.«

»Ja, das sehe ich ähnlich. Vielen Dank«, antwortete Devin, der nur noch wegwollte. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich Melvin an seiner Seite auf und wandte sich an Baldwin.

»Was der Gesegnete damit sagen wollte: Luna und die Mondwölfe wissen Eure großherzige Geste gegenüber den Wölfen des Carey-Rudels sehr zu schätzen, aber das bedeutet nicht, dass wir Eure Ansprüche im Rat unterstützen. Das werden die Rudel und der Alpharat autark entscheiden. Wir mischen uns nicht in die tägliche Politik ein und bleiben wie immer neutral. Ich wünsche Euch Glück beim Vertreten Eurer Position, Alpha Baldwin. Und nun gestattet, dass wir uns zurückziehen, es war ein langer Tag für den Gesegneten.«

Baldwin sah kurz enttäuscht aus, dann verbeugte er sich.

»Natürlich, Ehrwürdiger. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.«

Devin war überrascht. Melvin war nach seinem kurzen Anranzer verstimmt gewesen und hatte kaum etwas geredet. Er packte Devin am Arm und dirigierte ihn aus der Halle. Unterwegs lasen sie Kyle auf, der sich noch immer am kalten Büffet gütlich tat. Er ging mit ihnen wortlos zu dem Gästezimmer, in dem Kyle und Devin für die Nacht untergebracht waren und schob sie hinein. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte er mit ernster Miene: »Das war eben ein Grund, warum Ihr auf Eure Rolle besser in Lunapolis vorbereitet worden wärt, Gesegneter.«

»Wieso?«, fragte Devin, der nicht ganz verstand, was da eben ach so Dramatisches passiert sein sollte.

»Nun, Ihr habt gerade zugestimmt, dass Finley Baldwin zu Recht Ansprüche auf das gesamte ehemalige Territorium des Carey-Rudels anmeldet. Da Ihr der Gesegnete seid, impliziert das, dass es der Wille von Luna ist. Das würde bedeuten, die Mondwölfe ergreifen für Baldwin Partei. Und damit ist unser über Jahrhunderte erarbeiteter Ruf, stets neutral zu sein und uns aus den weltlichen Dingen der Rudel herauszuhalten, mit einem Schlag dahin. Mit unübersehbaren Folgen für die Machtverhältnisse im Alpharat und unseren Status. Wir wären über kurz oder lang nicht mehr bei jedem Rudel willkommen.«

»Aber ... aber sowas hab ich doch nie gesagt!«

»Ihr habt Baldwin im entscheidenden Moment nicht widersprochen.«

»Ich habe ihm nicht einmal richtig zugehört.«

»Ich weiß, Gesegneter. Und darauf hat Baldwin spekuliert. Meint Ihr, ihm ist nicht klar, dass er mit seinen Endlosmonologen die Leute langweilt und dass man sich über seine zusammenhanglosen Reden lustig macht? Das ist eine Taktik. Er lullt die Leute ein und redet sie müde, bis ihre Aufmerksamkeit nachlässt, dann schiebt er beiläufig das ein, was ihm wirklich wichtig ist. Er hat seine Position im Rat nicht umsonst schon so viele Jahre und hat seinen Einfluss ständig vergrößert. Seine Technik ist plump, aber wirkungsvoll.«

»Der hat mich absichtlich aufs Eis geführt!«, stellte Devin erstaunt fest. »Ich habe ihn wirklich nur für einen Schwätzer gehalten.«

Melvin nickte.

»Er spielt seine Rolle perfekt. Wenn er das komplette Territorium der Careys übernehmen könnte, hätte sich sein Revier fast verdoppelt und er würde im Alpharat mächtiger werden. So aber werden weitere Rudel Ansprüche auf das Gebiet anmelden und sie werden das unter sich ausmachen müssen. Baldwin wird am Ende ein sehr viel kleineres Stück des Kuchens bekommen.«

»Fuck! Das ist alles so kompliziert!«

»Das ist Politik, Gesegneter.«

»Allmählich verstehe ich, warum Jessie keine Besuche bei den Rudeln macht und lieber in Lunapolis bleibt.«

Melvin lächelte fein.

»Wenn ein gewöhnlicher Gesandter einen Fehler begeht, kann das immer noch korrigiert werden, aber wer mit der Autorität Lunas spricht, wie Ihr oder Seine Erhabenheit, darf keine Fehler machen. Das Thema werden wir vertiefen, wenn wir wieder zurück in Eurem Rudel sind. Für jetzt wünsche ich Euch eine gute Nacht, Gesegneter.«

Er verbeugte sich und ließ Kyle und Devin in ihrem Zimmer zurück.

»So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Das mit dem Gesegneten beginnt mich anzukotzen!«

»Frag mich mal!«, gab Kyle zurück.

Nach ihrer Rückkehr händigte Melvin Devin und Kyle eine dicke Akte voller Einschätzungen der Mondwölfe über die einzelnen Rudel, ihre Alphas und deren Ambitionen aus. Zusammen mit dem freundlichen Hinweis, diese doch bitte so schnell wie möglich zu lesen und vorzugsweise auswendig zu lernen. Die Motivation dafür hielt sich bei beiden in engen Grenzen.

Nach dem Beinahedebakel bei Baldwin lehnte Devin es strikt ab, weitere Rudel zu besuchen. Melvin nahm es widerstrebend zur Kenntnis. Das führte allerdings zu häufigen Besuchen anderer Alphas bei Neil, die dem Gesegneten ihre Aufwartung machen wollten. Das konnte Devin nicht verhindern und Neil gefiel es, denn dadurch, dass er bei diesen Treffen dabei war, wuchsen sein Ansehen und sein Einfluss.

Jessie hatte Wort gehalten und die Wahrheit über das Ende der Schattenwölfe publik gemacht. In der Folge übergaben viele ältere Alphas ihre Rudel mehr oder weniger freiwillig an ihren Nachwuchs. Anfangs war Melvin bei jedem dieser Besuche dabei, dann immer seltener. Am Ende nur noch bei Treffen mit Alphas, die als »schwierig« eingestuft wurden.

Wolfswandler III: ZeitenwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt