Kapitel 33

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Kraftlos ließ sich Devin auf einen Stuhl fallen. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf.

Kyle ist verzichtbar.

Dieser Satz und die Kaltblütigkeit, mit der er verkündet worden war, hallten immer wieder in ihm. Seine Enttäuschung über die Mondwölfe und über Jessie ganz persönlich war grenzenlos. Sie wollten nichts unternehmen, sondern ihn im Gegenteil nach Lunapolis entführen? Wenn er mit allem gerechnet hatte, aber damit nicht.

Sie sind bereit, Kyle zu opfern.

Erinnerungen wirbelten durch seinen Geist: Kyle, als sein alter Feind in der Jugend. Der Moment, wo sie sich als Mates erkannten. Ihre vorsichtige Annäherung. Die Markierung. Wie sie sich langsam näher kamen. Als so etwas wie Alltag in ihre Beziehung einkehrte. Wie sie einander ergänzten, jeder für den anderen der fehlende Teil der eigenen Seele. Und zum ersten Mal gab es Devin gegenüber sich selbst zu: Wie sehr sie sich liebten, auch wenn sie keine kitschig-romantischen Küsschen im Sonnenuntergang austauschten. Kyle war verzichtbar? Nicht für ihn. Das würde er nicht zulassen. Niemals! Und wenn er Kyle nicht mit den Mondwölfen befreien konnte, dann eben ohne sie.


Ein Räuspern von Rufus holte ihn zurück in die Realität.

»Das hatte ich befürchtet. Es tut mir leid, Devin.«

»Was, Rufus? Dass ihr nichts unternehmen wollt oder dass ich gegen meinen Willen nach Lunapolis verschleppt werde?«, fragte Devin bitter.

»Wir werden etwas unternehmen. Ich werde mit Marcus Kontakt aufnehmen. Wir kennen uns schon lange. Er ist zwar ein Vampir, aber vernünftigen Argumenten gegenüber aufgeschlossen. Wir werden eine Lösung finden, da bin ich mir sicher.«

»Wie schön.«

»Aber du musst auch verstehen, wie wichtig du für uns bist. Du bist ein Urwolf, ein Heiler, von Luna gesegnet! Wir können dich nicht den Klauen der Vampire überlassen. In Lunapolis bist du sicher. Und es ist ja nicht so, dass wir dich dort einsperren wollen, Devin.«

»Das klang anders. Wenn ich der Gesegnete bin, wieso interessiert dann niemanden, was ich sage?«

»Weil du noch jung bist und nicht alles im Blick hast.«

»Weißt du was? Euer ganzes Lunapolis kann meinetwegen in Schutt und Asche aufgehen!«

»Lunapolis wird erst enden, wenn sich die Wölfe vom Mond abwenden.«

»Das hätte ich nie von Jessie erwartet«, sagte Devin dumpf.

»Der Patriarch ist von Luna erwählt. Wir können nicht immer seine Entscheidungen verstehen, aber es ist ihr Wille. Einige von uns haben Überraschungen erlebt: Seine Politik ›Hinaus in die Welt‹ hat viele schockiert, Melvin musste gestatten, dass sein geliebtes Archiv digitalisiert wird und nicht zuletzt hat er mich in letzter Zeit mit einigen Beschlüssen kalt erwischt. Aber er ist der Patriarch. Er muss mehr Dinge bedenken, als wir gewöhnlichen Werwölfe.«

Auch Rufus schien nicht mit allem einverstanden zu sein, was gerade entschieden worden war, aber Devin machte sich keine Illusionen. Rufus mochte die Regeln manchmal großzügig auslegen, aber einem direkten Befehl würde er Folge leisten. Fürs Erste blieb ihm nur mitzuspielen und einen geeigneten Moment abzuwarten.


Rufus machte sich erneut an seinem Computer zu schaffen und seufzte.

»Er hat mich ignoriert. Marcus will nicht mit mir reden. Ich muss es später probieren. Komm, ich bringe dich zurück auf dein Zimmer.«

Er stand auf und deutete aufmunternd auf die Tür.

»Es wird schon alles gutgehen, Devin.«

»Und wenn nicht, macht das nichts. Kyle ist ja verzichtbar, wie ich nun weiß«, sagte Devin mit schneidender Kälte in der Stimme und ging hinaus, ohne Rufus noch einmal anzusehen.


Auf dem Weg zurück zur Baracke kamen sie an etlichen Wölfen vorbei, die das gesamte Gelände aufmerksam im Auge behielten. Belinda hatte anscheinend alle anwesenden Mondwölfe aus dem Bett getrommelt. Devin wollte unbedingt mit dem gefangenen Vampir reden, aber das würde schwierig werden. Dennoch registrierte er die Standorte der Wölfe – soweit sie ihm aufgefallen waren. Vor seinem Zimmer stand Alan Wache.

»Wer bewacht den Eindringling?«, fragte Rufus sofort.

»Belinda und Elizabeth stehen direkt vor der Kammer, Peter behält den Eingang des Geräteschuppens im Auge, der Rest streift über das Gelände.«

»Gut. Du bist für Devins Sicherheit verantwortlich. Morgen bringen wir ihn nach Lunapolis. Befehl des Patriarchen.«

»Oh! Ich dachte, Jessie würde ...«

Ein scharfer Blick von Rufus brachte ihn zum Verstummen.

Ohne ein weiteres Wort ging Devin in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Blind vor Wut und Sorge merkte er zunächst gar nicht, dass die anderen auf ihn gewartet hatten.

»Was unternehmen sie?«, stellte Morris die erste Frage.

»Nichts«, stieß Devin verbittert hervor und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Aber sie müssen doch Kyle und Mike retten!«, sagte Juan.

»Man wird reden und verhandeln, mehr nicht. Mich bringen sie morgen gegen meinen Willen nach Lunapolis, Kyle und Mike sind verzichtbar. Und Jessie hat zu dem allem noch genickt!«

Er fühlte sich enttäuscht, hintergangen und ausgeliefert. Wie konnte gerade Jessie ihn so verraten? War ihm nicht klar, was er Devin damit antat? Er sah wieder dieses unpassende Lächeln vor sich, als Jessie zu ihm sagte: »Das wird schön, wenn du in Lunapolis bist, Devin.«

Stockend erzählte er den anderen von der Besprechung. Auch sie hatten von den Mondwölfen mehr erwartet.

»Wenn ich dir irgendwie helfen kann ...«, bot Cassian schüchtern an.

»Danke, das ist lieb gemeint, aber ich wüsste nicht ...«

Devin stockte. Ihm kam eine Idee. Noch roh, undurchdacht, aber eine vage Möglichkeit. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren, entwickelte Pläne und verwarf sie wieder, bis er einen Ablauf vor sich sah, der wirklich funktionieren könnte.

»Ich brauche eure Hilfe«, sagte er schließlich am Ende seiner Überlegungen und schaute in die Gesichter seiner Freunde. Dann erklärte er seinen Plan.

»Aber du bringst dich damit in Gefahr!«, brachte Juan dagegen vor.

»Mag sein, aber das ist meine Entscheidung.«

»Du widersetzt dich den Mondwölfen!«

»Ganz recht. Juan. Keine Diskussionen, wir können das abkürzen: Werdet ihr mir helfen?«

Einen Moment herrschte Stille.

»Ich helfe dir. Du hast mich von den Fergusons befreit«, sagte Cassian mit fester Stimme, obwohl ihm anzusehen war, dass er sich fürchtete.

Morris wandte sich an seinen Gefährten.

»Er hat mich zurückgeholt. Ohne ihn wäre ich immer noch im Koma und du alleine. Wir schulden ihm das.«

Zärtlich strich Juan mit der Hand über Morris' Wange, dann schaute er Devin an.

»Morris hat recht. Wir helfen dir.«

Wolfswandler III: ZeitenwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt