Kapitel 9

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Schließlich kam der große Tag. In aller Frühe wurden Kyle und Devin abgeholt und ins Territorium des Baldwin-Rudels gefahren. Devins Laune war wegen der Uhrzeit ohnehin schon im Keller und sank weiter, als Melvin darauf bestand, dass er vor der Fahrt die Robe überziehen sollte.

»Aber ich kann die doch dort kurz vor der Zeremonie anziehen!«

»Für einen ersten Eindruck gibt es keine zweiten Chancen. Bitte vertraut mir und kleidet Euch bereits jetzt angemessen.«

Auch Melvin und Peter trugen ihre Amtskleidung, daher konnte Devin schlecht widersprechen. Leise vor sich hingrummelnd tat er wie geheißen. Auf der Fahrt redete Melvin weiter pausenlos auf sie ein, während Peter fuhr und wie immer kein Wort sprach. Allmählich drängte sich Devin der Verdacht auf, dass Peter ein Papagei war, der außer einem gelegentlichen »Ehre sei Luna!« keine weiteren Sätze beherrschte. Gegen Mittag fuhren sie vor dem Alphahaus vor. Zur Begrüßung trafen sie auf die Familie des Alphas, die ehemalige Luna des Carey-Rudels und natürlich Finley Baldwin selbst. Devin fühlte sich furchtbar unsicher in seiner Robe und erwartete eigentlich, dass die anderen jeden Moment in lautes Gelächter ausbrachen, und war erstaunt, dass sie etwas wie Ehrfurcht und Schüchternheit zeigten. Melvin übernahm die erste Begrüßung und kündigte dann Devin und Kyle an. Selbst Alpha Baldwin verbeugte sich tief. Im Chor schallte ihnen das vertraute »Ehre sei Luna« entgegen. Wie Melvin es ihm beigebracht hatte, antwortete er mit fester Stimme: »Erhebt euch!«

Alle schauten ihn erwartungsvoll an, also spulte er den nächsten auswendiggelernten Satz ab.

»Wir danken Alpha Baldwin für seine Gastfreundschaft und dass er uns als Zeugen zu dieser wichtigen Geste der Versöhnung eingeladen hat. Sie wird die Wunden heilen, die durch Verräter verursacht wurden. Luna blickt mit Wohlwollen auf diese Zeremonie.«

Er warf einen kurzen Seitenblick zu Melvin, der kaum merklich nickte und zufrieden lächelte. Devin dagegen kam sich eher vor, wie bei einer drittklassigen Schulaufführung. Kyle neben ihm schaute abwechselnd ihn an oder das Publikum und über den Matelink bekam Devin mit, dass er den Auftritt wie erwartet etwas albern fand, aber stolz war, dass Devin alles so gut gemeistert hatte. Dann kam der Teil, vor dem Devin sich gefürchtet hatte: Finley Baldwin trat vor und begann zu reden.

Kaum anderthalb Stunden später war er auch schon fertig, nach wortreichen Entschuldigungen bei Devin für sein Verhalten beim Prozess, einem Lamento über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen und seiner Freude über die bevorstehende Verschmelzung des Carey-Rudels mit seinem eigenen. Danach ließ er Erfrischungen reichen. Devin, dem vom langen Herumstehen die Füße wehtaten, nahm sich einen gekühlten Orangensaft. Er brauchte etwas Kaltes. Kyle dagegen stürzte sich auf einen Kaffee. Melvin wich nicht von ihrer Seite und beobachtete sie mit Argusaugen. Er hatte Devin gewarnt, dass der Smalltalk, der sich nun anbahnte, der gefährlichste Teil seines Besuches hier wäre, da Gespräche unvorhersehbar waren und eine gezielte Vorbereitung nicht möglich war. Eine unbedachte Äußerung könnte viel Schaden anrichten. Entsprechend angespannt war Devin, als die Luna des Carey-Rudels auf ihn zusteuerte.

»Verzeiht, Gesegneter, könnte ich kurz mit Euch sprechen? Ich bin Alicia Carey, die Witwe von Myrna Carey.«

»Natürlich. Ich bedauere Euren Verlust.«

Ein kurzer Ausdruck des Schmerzes huschte über ihr Gesicht, dann hatte sie sich wieder im Griff.

»Ich möchte Euch nur noch einmal versichern, dass unser Rudel und auch ich keine Ahnung von den Machenschaften von Myrna hatten. Wenn ihr mir nicht glaubt, kann ich das verstehen, doch wir sind unschuldig.«

»Das wissen wir. Unsere Untersuchung kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass Myrna Carey alleine gehandelt hatte. Es besteht kein Grund, sich schuldig zu fühlen«, mischte sich Melvin ein.

»Alicia, ich werfe Euch nichts vor. Myrna Carey und Ethan Tremayne waren raffiniert und haben viele getäuscht, nicht nur Euch«, sagte Devin, weil er das Feld nicht allein Melvin überlassen und die Frau vor ihm trösten wollte.

»Danke, Gesegneter«, seufzte sie erleichtert, »Ich wusste, dass Myrna wegen ihrer toten Schwester Russel Mullins leidenschaftlich hasste, aber ich hätte nie gedacht, dass sie so weit geht. Meine Sorge galt immer dem Rudel. Ich war tief erschüttert, dass sie ein Mitglied für ihre Pläne geopfert hat.«

»Der Beitritt zum Baldwin-Rudel ist ein neuer Anfang für alle.«

»Ich werde heute noch nicht beitreten. Ich habe nur mein Rudel hierher begleitet.«

»Ihr werdet nicht beitreten?«, fragte Devin überrascht.

»Nein, ich will zuerst zu Mullins reisen und mich bei ihm für Myrnas Taten entschuldigen. Das kann ich nur, solange ich noch die Luna des Carey-Rudels bin.«

»Ihr seid nicht mehr die Luna. Das Carey-Rudel wurde aufgelöst. Ihr seid eine rudellose Wölfin, nicht mehr«, ging Melvin dazwischen.

»Das sehe ich anders und ich bin mir sicher, Mullins wird es verstehen. Danach werde ich Alpha Baldwin bitten, mich in sein Rudel aufzunehmen.«

Devin war beeindruckt von ihrem Vorhaben und ärgerte sich über Melvins gefühllose Reaktion.

»Dann wünsche ich Euch gute Reise. Ich bin sicher, Luna ist darüber erfreut.«

»Danke, Gesegneter. Ich weiß, es ist nicht richtig, aber trotz allem vermisse ich Myrna«, sagte sie leise und ging davon.

»Wir sollten gegenüber Dritten die gleichen Positionen vertreten, Gesegneter«, flüsterte Melvin sichtlich angesäuert.

»Das ist ganz einfach. Dann schließt Euch meiner Position an, Ehrwürdiger«, zischte Devin und ließ ihn stehen.

Irgendwo musste man schließlich Grenzen ziehen. Er hatte sich für seinen Geschmack schon zu sehr verstellen müssen.

Wolfswandler III: ZeitenwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt