KAPITEL DREI

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Triggerwarnung: Solltest du sensibel im Bezug auf suizidale Gedanken und Taten reagieren, dann überspringe das Kapitel bitte!

Ich schwebte eine Sekunde lang im Nichts. Freier Fall – völlige Stille. Und es war die längste Sekunde meines Lebens. Es war die Sekunde meines Lebens, die ich am meisten bereute. Eine Sekunde und tausend Gedanken, was ich noch alles hätte machen können, was ich noch alles vorgehabt hätte. All die Träume der kleinen Kit-Kat in einer einzelnen Sekunde zerstört. Es würde keine zweite Chance geben, nicht für mich.

Und dann wurde ich zurück gerissen. Mein Rücken prallte hart gegen die Betonbrüstung. Meine Füße hingen im nichts. Ohne Halt. Viele Meter über der Wasseroberfläche.

„Halt dich fest!", es war eine mir unbekannte tiefe Stimme, die von über mir kam. Die Stimme schoss mir wie ein Blitz durch meinen Körper: Dort oben stand jemand, der mir das Leben rettete.

„Gib mir deine andere Hand! Schnell!", rief er mir zu. Ich blickte nach oben. Mit dem halben Oberkörper hing ein junger Mann über der Brüstung und hielt meinen Arm mit beiden Händen umschlungen.

Ich strampelte und merkte, wie meine Hand etwas aus seinem Griff rutschte, als ich versuchte, meine andere Hand nach seiner auszustrecken. Mein Herz hämmerte so schnell, dass ich dachte, es würde jede Sekunde zerspringen. Panik. „Bitte lass mich nicht los!", flehte ich ihn an.

„Ich halte dich!", sein Blick war fest auf meinen gerichtet, seine Lippen waren vor Anstrengung zu einem flachen Strich zusammen gepresst.

Dann endlich erreichten meine Finger seine Hand und er griff danach. Seine Hände schlangen sich stark um meine dürren Handgelenke. Er atmete einmal keuchend aus, dann begann er mich hochzuziehen. Ich hing reglos an seinen Armen und spürte lediglich, wie der raue Beton der Brüstung meine Jacke zerriss und mir Wangen und Ellbogen aufschürfte.

Doch ich fühlte den Schmerz nicht. Ich spürte nur, wie mein Körper ums Überleben kämpfte.

Langsam zog er mich Stück für Stück über die Brüstung, erst meinen Oberkörper, dann meine Hüften und schließlich meine Beine. Wie ein schwerer Strohsack viel ich gemeinsam mit ihm auf den Boden der Brücke. Er rappelte sich schnell auf und drehte mich auf die Seite um zu sehen, ob ich in Ordnung war. Ich konnte mich nicht bewegen; der Schock hatte meine Muskeln gefrieren lassen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich durch sein Gesicht hindurch in die Dunkelheit des Himmels hinter ihm. Ich konnte nicht sprechen.

„Bist du in Ordnung? Hast du dich verletzt?", fragte er mich mit aufgewühlter Stimme und tastete meine aufgeschürfte Wange ab. „Oh Gott, du wolltest springen!", das Entsetzten in seiner Stimme überschlug sich und er schlug sich vor Schreck gegen die Stirn und zog an seinen kurzen Haaren.

Springen? Ich wollte springen? Ich wollte mein Leben beenden? Das klang so falsch. Erst da begriff ich, dass dies kein Versuch gewesen war, mein Leben wegzuwerfen. Es war die simpelste und gleichzeitig endgültigste Hoffnung gewesen, davor gerettet zu werden nicht mehr zu existieren.

Ich hatte nicht springen wollen. Ich hatte gerettet werden wollen.

Ich wollte nicht sterben. Ich wollte leben. Nur wusste ich nicht wie.

„Kannst du mir antworten?", je länger ich schwieg desto besorgter wurde sein Blick. Angst stach aus seinen Augen hervor. Er war viel älter als ich und trotzdem noch so jung, dass die Hilflosigkeit aus seinem Inneren hervorstach. Ich zwang mich, zu nicken. Erleichtert über meine Reaktion lies er sich selbst eine Sekunde lang zurück fallen und lehnte sich gegen die Brüstung der Brücke.

„Verdammte Scheiße", fluchte er und fuhr sich mit den Fingern erneut durch seine kurzen Haare. Eine Weile lang sagte keiner von uns etwas und wir blickten einfach nur beide stumm in den dunklen, schwarzen Himmel hinauf. Die kleinen Sterne leuchteten uns wie funkelnde Tropfen aus Hoffnung entgegen und verdrängten die Dunkelheit der Nacht um sich herum.

Teenage YearsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt