„Halt!" ich atmete einmal tief ein und schloss die Augen, als ich die Luft langsam wieder zwischen meinen Zähnen ausstieß. Ich saß im Schneidersitz auf dem Baumstumpf auf dem wir eben unser Essen vertilgt hatten. Simon saß vor mir im Gras und hielt meine Hände. Er war einfach zu süß. Ally stand hinter mir, breitbeinig, beinahe, als würde sie sich auf einen Kampf vorbereiten, die Haare zurück gebunden, die Ärmel ihres Hemdes hochgekrempelt und in einer Hand die Schere.
„Bereit?", fragte sie sanft. Ich nickte. „Bereit."
Ich behielt die Augen geschlossen und so spürte ich viel intensiver, als Ally vorsichtig meine Haare hinter meinem Kopf im Nacken zusammen nahm und begann, sie mit der Schere abzuschneiden. Der erste Schnitt war wie ein Blitz der mir durch den Körper fuhr und bis in meine Fingerspitzen hinein kribbelt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Verdammte Scheiße. Auf meinem Gesicht breitete sich ein breites Lächeln aus.
Das Geräusch der Schere, die durch meine Haare glitt war merkwürdig. Es war nicht wie Papier und auch nicht wie Stoff, vielleicht irgendwas dazwischen. Die kalte Klinge der Schere glitt a meinem Nacken entlang und verursachte dort, wo sie meine Haut berührte eine Art Gänsehaut. Langsam fühlte ich, wie das Gewicht meiner Haare verschwand und mein Kopf immer leichter zu werden schien.
Dann verschwand auch die Schere von meinem Nacken und mit ihr endgültig das Gewicht meiner Haare. Ich öffnete die Augen, auch wenn ich wusste, dass ich die Veränderung nicht würde sehen können. Simon, der immer noch vor mir im Gras saß hatte den Mund sperrangelweit offen stehen und schien es noch nicht einmal zu merken.
„Was?", fragte ich panisch. „Sieht es so schlimm aus, oder wie?", meine Hände glitten automatisch nach oben zu meinen Haaren und bekamen erst einmal nichts zu fassen. Sie waren bereits kürzer, als ich gedacht hatte. Es war ein seltsames Gefühl, die kurzen Enden hinter meinen Ohren zu spüren. Eine Strähne viel mir nach vorne in die Stirn. Sie ging nicht länger, als bis zu meinen Lippen. Ich stieß ein überraschtes und aufgeregtes Keuchen aus, das zur Hälfte Panik und zur anderen Hälfte Freude war.
„Nein. Nicht schlecht. Anders. Verdammt anders.", ich blickte von meiner Haarsträhne wieder zu Simon. Ich hatte ihn noch nie fluchen gehört. Es musste ihn wohl wirklich sehr kalt und sehr positiv erwischt haben. Mein Herz schlug bei diesem Gedanken schneller. Vor Aufregung, dass ich etwas tat, was ich mich eigentlich nie getraut hätte. Vor Freude, dass ich endlich das tat, was ich mir schon seit Jahren wünschte und vor tausenden anderen kleinen Gefühlen, die ich nicht auseinanderhalten oder benennen konnte. Doch eine Sache die ich nicht fühlte, war die leere und Einsamkeit, die mich so lange begleitet hatte. Ich fühlte nur das Leben. Vielleicht war ein Teil meines alten Ichs – dieses versteckten Ichs – mit meinen Haaren von mir abgefallen. Der Gedanke gefiel mir.
Hinter mir hörte ich das Rascheln des langen Grases und Ally kam zu Simon nach vorne. Die Haare in einer Hand mit den Fingern umklammert. Es sah beinahe makaber aus, wie sie diesen Büschel Haare in den Händen hielt. Vielleicht dreißig Zentimeter, vielleicht auch vierzig, auf jeden Fall viel. Sehr viel.
Ich schlug die Hände vor den Mund. „Oha! Ally, das ist ja so viel Haar!", dann streckte ich eine Hand danach aus und nahm meine Haare entgegen. Sie sahen irgendwie fehl am Platz aus, es war einfach ein furchtbar seltsames Gefühl. Wie eine Leiche lagen sie mir in den Händen.
„Hey! Du könntest sie spenden.", schlug Simon vor und sah mich fragend an. „Stimmt, das ist so viel Haar, damit können die bestimmt richtig was anfangen!", stimmte Ally aufgeregt und begeistert von dieser Idee zu.
„Aha.", brachte ich gerade so hervor. Ich war sprachlos. Ally nahm mir die Haare vorsichtig wieder aus der Hand, darauf achtend, dass sie auch alle zu fassen bekam. Dann nahm sie den Haargummi entgegen, den ich von meinen Handgelenk gezogen hatte. Sie wickelte ihn vorsichtig um die Haare, sodass sie alle zusammen blieben, dann legte sie den Zopf neben mir auf den Baumstumpf. Naja, immerhin hatte dieser Haargummi noch einen letzten ehrenwerten Job gefunden. Ich hatte schon halb befürchtet, er würde jetzt für die nächsten Jahre sinnlos an meinen Handgelenk hängen. Das wäre schon ziemlich traurig gewesen.
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Teenage Years
Teen FictionKathleen hat sich verloren. Irgendwo in ihrem Kopf, in ihren Gedanken, die niemals schweigen ist sie untergegangen. Doch gerade als sie zu ertrinken droht wird sie von zwei komplett fremden Menschen zurück an ein beinahe vergessenes Ufer gezogen. Si...