Er war durchgefahren. Die ganze Strecke von Calgary bis nach Edmonton über hatte er kein einziges Mal angehalten. Er war übermüdet und aufgewühlt. Er war besorgt und durcheinander. Er war eine Gefahr für sich und jeden anderen Autofahrer auf der Straße und doch konnte er nicht anhalten.
Als er endlich sein Ziel erreichte war die Musik längst zu einem Trance ähnlichen Zustand verschwommen. Kathleens Musik.
Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie sehr sie Musik geliebt hatte. Alle Arten von Musik, es war ganz gleich gewesen, was man ihr vorgesetzt hatte, sie hatte dazu gesungen (sehr schief) und getanzt. Ganz wundervoll hatte sie getanzt. Nicht professionell und auch nicht so, als wüsste sie, dass sie dabei beobachtet würde. Nein, Kathleen hatte mit einer rohen und mutigen Freiheit getanzt von der er nie seinen Blick hatte losreißen können.
Doch dann war er weggezogen und seine kleine Schwester hatte immer seltener von neuen Liedern geschwärmt. Je weniger es wurden, desto wertvoller hielt er sie in seinem Gedächtnis. Desto öfter hörte er sie sich auf seinem alten kaputten Handy an. Desto sehnlicher versuchte er, sie zu verstehen. Versuchte zu verstehen welche Botschaft sie versuchte ihm mitzuteilen. Und irgendwann hatte sie dann keine Musik mehr gehört.
Das letzte Lied, von dem sie ihm erzählt hatte war ein emotionales Klavierstück gewesen. Vertiginous News von Isabelle Mathis. Die ganze Fahrt bis zu seiner Mutter hatte er nur dieses eine Stück gehört. Immer und immer wieder. Es war leidenschaftlich und traurig und emotional und lebensfroh und einsam und alles was Kathleen all die Zeit über tief in sich drin gewesen war während sie aufgehört hatte mit ihm zu reden und zu lachen.
Als seine Mutter ihm die Tür zu ihrem Haus öffnete und ihn hereinbat und ihm Tee aufsetzte und ihn auf das Sofa setzte zog er sie zu sich und spielte ihr das Klavierstück vor. Und da saßen sie nebeneinander auf der Couch und waren eine Familie und gleichzeitig nur ein Bruchstück einer Familie. Er erzählte ihr von seiner Schwester. Von ihrer Tochter. Er erzählte ihr nicht alles, nicht vieles, aber etwas. Genug, damit seine Mutter – ihre Mutter – sich vorstellen konnte, wie aus der kleinen Kit-Kat, die sie vor so vielen Jahren verlassen hatte, eine junge Frau geworden war.
Er erzählte ihr von den vielen, vielen Zettel und Gedankenfetzen und Gedichten.
Er erzählte ihr, dass er sich für sie wünschte, dass sie irgendwann zu sich finden würde und glücklich mit sich werden würde. Dass er sich wünscht, dass sie all ihre wundervollen Gedanken an andere weitergeben würde. Dass er sich wünschte, dass sie nie aufhörte zu schreiben. Er liebte, dass sie schrieb. Er liebte sie.
DU LIEST GERADE
Teenage Years
Teen FictionKathleen hat sich verloren. Irgendwo in ihrem Kopf, in ihren Gedanken, die niemals schweigen ist sie untergegangen. Doch gerade als sie zu ertrinken droht wird sie von zwei komplett fremden Menschen zurück an ein beinahe vergessenes Ufer gezogen. Si...