Contentwarnung für Depression und Tod.
Erst am nächsten Morgen sollte der alte Mann das Geld auf dem Tresen seines kleinen Ladens finden. Gestern hatte er nicht gearbeitet. Gestern hatte er gar nichts getan. Nur getrauert. Um seinen kleinen Sohn, der vor mehr als 30 Jahren gestorben war. Ben war nicht einmal zehn Jahre alt geworden. Er war ein wirklich liebevolles Kind gewesen, voller Freude und Lebenslust. Doch all seine Energie hatte nicht ausgereicht, um den Krebs in sich zu überwältigen. Fünf lange qualvolle Jahre hatte er gegen die Krankheit in sich angekämpft. Fünf Jahre voller Ärzte und Medikamente. Voller Chemie und Bestrahlung. Doch am Ende hatte es alles nichts mehr geholfen. Austherapiert hatten die Ärzte gesagt, was im Grunde nur eine höfliche Beschreibung für lebendiger Toter war. Danach war es sehr schnell sehr viel schlimmer geworden. Und dann im Herbst – es war ein sehr schöner Herbst gewesen und andere Kinder hatten draußen gespielt und gelacht – war er gestorben.
Jennifer – seine Frau – hatte es nie geschafft, mit dem Schmerz in sich weiterzuleben. Liebevoll und fürsorglich und manchmal auch sehr ausgelaugt hatte er sich um sie gekümmert. Darauf geachtet, dass sie ihre Tabletten nahm. Sie dazu gebracht jeden Tag aufzustehen und mindestens jeden zweiten Tag zu duschen. Er hatte für sie gekocht und sehr oft das unangetastete essen mit Frischhaltefolie wieder zurück in den Kühlschrank gestellt. Er hatte irgendwo zwischen dem Ausbruch des Tumors und dem Tod seines Sohnes seine Frau verloren. Manchmal fragte er sich noch heute, wie das hatte passieren können. Vor zwei Jahren dann war sie als alte Frau gestorben. Ihr Körper war dünn gewesen und die Falten um ihre Augen tief. Der Tod war für sie ebenso eine Erlösung gewesen, wie er es vor all den Jahren für seinen Sohn gewesen war.
Ohne einen Grund weiter in der Stadt zu bleiben, in der er sein Leben verbracht hatte und täglich daran erinnert wurde, dass auch sein Sohn und seine Frau es hier ganz anders hätten verbringen können, war er gegangen. Er wollte nicht mehr die Spielplätze sehen, auf denen Ben nie gespielt hatte, weil er schwach in den weißen Decken eines Krankenhausbettes gelegen hatte. Er wollte auch nicht die Eisdielen sehen, vor denen sie jeden Sonntagmorgen zusammen hätten sitzen können, wenn Ben nicht fast alles, was er zu sich nahm wenig später wieder keuchend und hustend hervor gewürgt hätte. Den kleinen Buchladen um die Ecke, in dem seine Frau auf Grund ihrer Depression nicht mehr hatte arbeiten können, obwohl sie Bücher über alles geliebt hatte. Die Parkbank, auf der Jennifer und er damals ihr erstes Date verbracht hatten. Der Laden für Bettwäsche, in dem sie eingekauft hatten, als sie zusammen ihr erstes Apartment gemietet hatten. Die kleine Bar in der sie daraufhin am Abend mit Freunden gefeiert hatten. Der große Baum im Park, der Plattenladen zwei Häuserblocks weiter, die Lieblingstasse seiner Frau im Küchenregal, Bens fast unbenutztes Kinderzimmer, das nie ausgeräumt worden war.
So vieles hatten sie nie losgelassen. Und dann war er gegangen und hatte nichts mitgenommen. Nur die Kleidung, die er an sich trug und einen kleinen Koffer mit Wäsche und Geld und einem Bild von Ben. Die Tankstelle hatte einen einsamen und traurigen Anblick geboten und das hatte sich auch nie geändert. Aber zumindest konnte er hier weiterleben. Er war dankbar dafür, dass er zehn Jahre mit seinem Sohn hatte verbringen dürfen und auch für all die Jahre mit seiner Frau. Es war kein leichtes Leben gewesen, aber sie hatten gemeinsam das Beste daraus gemacht, er würde keine seiner Erfahrungen hergeben wollen. Er hatte gelernt damit zu leben und seinen Frieden zu schließen. Nur gestern nicht, nicht an dem Tag, an dem Ben gestorben war. Niemals an diesem Tag. Und das war okay.
Der alte Mann nahm das Geld mit seinen knöcherigen Händen von der glänzenden Theke und legte es in die Kasse. Es war eine alte Kasse mit Rostflecken und angelaufenen Rändern, er mochte sie. Als er die Kasse abschloss schloss er darin auch den Geldschein ein, auf dem in kleiner krakeliger Schrift einige Zeilen gestanden hatten. Er hatte sie nicht gesehen und nicht gelesen, da seine Augen schwach waren und seine Lesebrille auf seinem Nachtkästchen lag. Hätte er die wenigen Worte gelesen hätte er sicherlich geschmunzelt und sich vorgestellt, wie nicht jemand fremdes sondern Ben diese Worte schrieb. Aber er konnte auch so lächeln. Es hatte gebraucht, bis er es wieder gelernt hatte, aber er hatte es geschafft.
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Teenage Years
Teen FictionKathleen hat sich verloren. Irgendwo in ihrem Kopf, in ihren Gedanken, die niemals schweigen ist sie untergegangen. Doch gerade als sie zu ertrinken droht wird sie von zwei komplett fremden Menschen zurück an ein beinahe vergessenes Ufer gezogen. Si...