6. wǒ de àirén

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Der Regen ließ schon langsam nach, aber ich kauerte in der Hocke unter dem Dach, denn ich war absolut nicht bereit, zu gehen. Meine Gliedmaßen fühlten sich an, als würden sie eine Tonne wiegen, und am schwersten war mein Kopf. Mir war kalt und ich zitterte am ganzen Körper. Ich hätte definitiv noch eine Jacke mitnehmen sollen, aber ich hatte mich auf die Wettervorhersage verlassen.

Ehrlich gesagt hatte ich nun auch die Orientierung verloren, und hier stand nirgendwo ein Schild, an dem ich mich hätte zurechtfinden können. Ich wusste nicht einmal mehr, aus welcher Richtung ich gekommen war, und der Regen übertönte das Rauschen der Wellen, sodass ich nicht einfach zurück zum Strand gehen konnte. Vielleicht war ich auch einfach schon zu weit weg, um das Wasser hören zu können, wie es schäumend in den Sand rauschte.

Ich spürte, wie Tränen in mir aufstiegen und wischte mir mit zittrigen Händen über die Wangen, um sie zu vertreiben, aber es gelang mir kaum, sie zu stoppen. Mein Herz rumorte und am liebsten wollte ich mich hier in den Dreck legen und darauf warten, dass mein monatlicher Gefühlsturm aufhörte auf mich zu wirken. Vielleicht war es auch einfach Neos Stimme, die sich wie in Dauerschleife in meinem Kopf abspielte und mich fast in den Wahnsinn trieb, denn mir wurde langsam bewusst, dass mich irgendwas an diesem jungen Mann hielt, dass ich nicht einordnen konnte.

Ich hob meinen Kopf, als unweit von mir Zweige knackten, um die Ursache dafür zu finden, als ich Neo sah, wie er schnellen Schrittes auf mich zulief. War er wegen mir zurück gekommen?

»Oh mein Gott, Finley, geht es dir gut?«, rief er leise und beschleunigte noch etwas, sodass er nun locker auf mich zujoggte. Da ich mich vor Überraschung nicht regte, hielt er knapp vor mir an, beugte sich zu mir und zog mich in eine feste Umarmung an sich.

Sofort fing ich wieder an zu heulen, dieses Mal vor Erleichterung, dass Neo zu mir gekommen war, und noch mehr, weil mein Herz so unglaublich schnell auf und ab hüpfte, während er mich an sich presste. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich mir die ganze Zeit gewünscht hatte, dass er zurück kam, und jetzt war er hier und hielt mich im Arm.

»Du hättest nicht allein bleiben sollen«, schimpfte er mit sanfter Stimme und strich mir beruhigend über den Rücken, während ich mich in sein ebenfalls komplett nasses Shirt krallte, unfähig, irgendetwas anderes zu tun. Hey, immerhin konnte es nicht noch nasser durch meine Tränen werden!

»Tu-Tut mir leid«, wimmerte ich, während meine Zähne vom Zittern aufeiander knallten. Neo setzte seinen Rucksack ab, um seine Jacke herauszuziehen, dann warf er sie mir über die Schultern und zog mich wieder an sich, um mir Wärme zu spenden.

»Komm, wir gehen zurück zu den anderen«, sagte er leise, ließ mich aber nicht los. Auch so hatte ich noch kein Gefühl in den Beinen, um wieder eigenständig laufen zu können. Da ich keine Anstalten machte, mich zu bewegen, hob Neo mich vorsichtig auf die Arme. Erst protestierte ich leise, aber das war wahrscheinlich die sinnvollste Reaktion.

Sobald ich meine Arme und Beine um ihn geschlungen und meinen Kopf auf seine Schulter gebettet hatte, lief er langsam in die Richtung, aus der er gekommen war. Er sagte nichts, aber das war nicht schlimm, denn durch meine vereinzelten Schluchzer war ich sowieso nicht bereit dazu, vernünftig zu kommunizieren.

Irgendwann hatte ich mich an Neos wippende Schritte gewöhnt und meine Augen waren vom zusammenkneifen so müde, dass ich sie einfach schloss. Ich war sowieso erstaunt, dass er mich immer noch trug, obwohl ich nicht der leichteste war. Dann beschlich mich die Unsicherheit und ich regte mich etwas, woraufhin Neo sofort anhielt.

»Ich glaube, ich kann wieder laufen«, murmelte ich schüchtern, und Neo ließ mich ohne Protest wieder langsam auf meine Füße zurücksinken.

»Wenn du nicht mehr kannst, dann sag bescheid, okay?« Neo hielt mein Gesicht fest und prüfte mich mit einer besorgten Miene, aber mir ging es schon wieder so gut, dass ich mein Gesicht abwenden musste, da mir die Röte, die seine Berührung in mein Gesicht trieb, peinlich war.

»Finley?«

»Okay, mache ich«, versprach ich, was ihn sichtlich zufriedener stimmte. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, meine Hand zu ergreifen und so sicherzustellen, dass ich kein zweites Mal verloren ging. Mich durchströmte eine angenehme Wärme, als sich unsere Fingerspitzen berührten und ich seufzte wohlig auf.

»Neo, kannst du bitte niemanden erzählen, dass ich geweint habe?«, nuschelte ich und hielt meinen Blick starr auf den Boden gerichtet, unter anderem, weil der Boden immer noch nass und rutschig war und ich mich zusätzlich nicht noch auf die Fresse legen wollte.

»Keine Sorge«, antwortete er ebenso leise und strich beruhigend mit seinen Daumen über meinen Handrücken. Ja, das beruhigte mich wirklich. »Wenn du das nächste Mal weinen musst, dann sag mir bescheid, und ich schlage den Grund für deine Traurigkeit, ja?«

Ich musste trotz meiner miesen Laune leise lachen, worüber Neo scheinbar sehr stolz war, denn seine Brust schwoll etwas an und er grinste zufrieden. Dieser Mann war wirklich ein Geschenk des Himmels, und ganz langsam beschlich mich die Frage, ob ich das Geschenk nicht einfach annehmen sollte.

»Tut mir leid, dass ich so früh eingeschlafen war, eigentlich wollte ich nach dem Film noch mit dir reden und mehr über dich erfahren, aber ... naja, ich war wohl doch ziemlich erledigt von der Arbeit.« Er legte seine freie Hand in den Nacken und rieb sich verlegen damit über die freie, braungebrannte Haut.

»Schon okay«, sagte ich und lächelte leicht. »Ich war auch müde.«

»Puh, gut, dann muss ich kein soooo schlechtes Gewissen haben«, lachte Neo leise und streichelte wieder meinen Handrücken.

Wir liefen eine Weile weiter, der Regen hatte mittlerweile aufgehört und wir stapften schweigend durch den Wald. Vereinzelt konnte man wieder Vögel zwitschern hören, und als ich das erste Auto hörte, seufzte ich erleichtert auf. Endlich waren wir wieder in der Nähe der Zivilisation und ich konnte mit einem ruhigen Gewissen den Spaziergang fortsetzen.

Zumindest, was meine Orientierungslosigkeit anging, denn nun konnte ich mich einfach winkend an den Straßenrand stellen, falls ich mich wieder verlief.

»Wo sind eigentlich die anderen?«, fragte ich unsicher, als Neo mich in die entgegengesetzte Richtung führte, in der ich das Camp vermutete.

»Die warten in dem Café, dass ich vorhin erwähnt hatte«, erklärte mein Retter in der Not und wechselte die Seite, wie man es mit Kindern tat, sodass sie nicht an der Straßenseite gingen sondern die Erwachsenen. Ich ließ ihn gewähren, aber seine Hand hielt ich weiterhin fest umklammert.

»Oh ja, ein Kaffee wäre jetzt wirklich himmlisch«, murmelte ich sehnsüchtig und auch Neo nickte bedächtig.

»Wenn du willst, kann der Chef dich zurück ins Camp fahren, nicht, dass du noch krank wirst in deinen nassen Kleidern«, meinte er besorgt und sah mich wieder mit diesem Blick an, der mich auf der Stelle schmelzen ließ, wenn ich nicht aufpasste. Verdammt, ich konnte und wollte ihm gar nicht aus dem Weg gehen.

»Nein, schon okay, ich wärme mich einfach etwas auf und dann wird das wieder.«

»Genauso, wie du allein hinterher kommst und uns einholst?«, zog er mich grinsend auf und ich verzog das Gesicht.

»Willst du mir damit sagen, dass ich ab jetzt lieber auf dich hören sollte?«

»Wenn du es so sagts, dann hört sich das irgendwie doof an«, sagte Neo gespielt nachdenklich, bevor er mich noch einmal kurz an sich zog, um mir einen Kuss auf den Kopf zu drücken. Meine Haut begann zu kribbeln und ich lehnte mich unbewusst näher an ihn. »Aber ja, das meinte ich. Wehe, du wirst krank.«

»Okay, dann werde ich heute ausnahmsweise auf dich hören«, sagte ich belustigt und wollte die Arme um Neo schlingen, aber er löste sich schon wieder und ich schnalzte enttäuscht mit der Zunge.

»Wenn das Bobby auch mal zu mir sagen würde, wenn ich ihm vorschlage, dass wir Flachbildfernseher in den Personalzimmern brauchen.« Er schmunzelte belustigt, bevor er sich wieder mit meiner Hand in seiner in Bewegung setzte. Ich stolperte ihm hinterher, das Herz schlug mir bis zur Brust, während wir die letzten Meter zum Café gingen.

Seine Hand hielt ich weiterhin umklammert und ich hatte Angst, sie loszulassen.

Ich war in Neo verknallt.

Four Nights (ManxMan)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt