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Ylvi

Ich war so vertieft in die Musik und das Geschehen auf der Bühne, dass ich nicht bemerkt habe, das Jayden nicht mehr neben mir steht. Sicher ist er nur kurz zur Toilette gegangen. Doch ein Anflug von Panik lässt meine Kehle enger werden. „Jayden!" Rufe ich. Niemand hört mich. Es ist inzwischen so voll, dass uns kaum jemand wahrnimmt. Vor der Bühne hat sich eine Menschentraube gebildet, die mit jeder Minute anwächst.

Wieder und wieder rufe ich nach Jayden und versuche, mich daran zu erinnern, dass Theo in Holland ist. Sein Kumpane Paul ist ohne ihn ein Niemand. Selbst wenn er hier wäre, ginge keine Gefahr von ihm aus. Aber er ist nicht hier. Weshalb wir erst Recht nichts zu befürchten haben.

Mit klopfendem Herzen bahne ich mir meinen Weg durch die Menge, bis hin zur angrenzenden Stadthalle. Hier sind die Toiletten für die Besucher des Events. Ein Mann kommt mir entgegen und mustert mich stirnrunzelnd. Vorsichtig klopfe ich an die Toillettentür. „Jayden? Bist du da drin?"

„Hey, wer ist denn da?" Die Tür wird so abrupt von innen aufgerissen, dass ich fast auf den Mann gefallen wäre, der dahintersteht. Ein zweideutiges Grinsen zerrt seine Mundwinkel nach oben. „Sieh mal einer an. Wenn das kein Zufall ist."

Sekundenlang starre ich in das altbekannte Gesicht, welches die düsteren Träume meiner Jugend geprägt hat. Das mich zum Zittern brachte, wann immer ich mich im Dunkeln nach Hause geschlichen habe. „Theo," stammle ich. Mit einem Kopfnicken leckt er sich die Lippen. Sein saurer Atem prallt auf mein Gesicht. Stolpernd stürzte sich aus der Toilette in den Flur und renne die Stufen zur Flügeltür herunter ins Freie.

Keuchend bleibe ich stehen. Meine Beine sind nicht mehr fähig sich von der Stelle zu bewegen. Hinten bei der Strandbar steht Jayden. Ich erkenne ihn am violetten Haarschopf. Jemand tänzelt neben ihm herum, zerrt an seinem Arm. Er ist kleiner als er. Obwohl die beiden relativ weit entfernt sind, ist die Panik in ihren Gesichtern deutlich erkennbar. Die Situation ist so surreal. Erst Niklas und sein intensiver Blick, seine Stimme, die nur für mich zu singen schien. Dann die Begegnung mit Theo. Ein glühend heisser Stein sinkt mir in den Magen. Der Mann, der jetzt vor Jayden und dem anderen Jungen herumtanzt und sie hin und wieder an den Armen ergreift, wie um sie zu Boden zu schleudern ist Paul. Theos ständiger Begleiter.

Doch auch diese Erkenntnis bringt mich nicht dazu, endlich wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Erst als Theo mich anrempelt, und ich beinahe zu Boden falle, erwache ich aus der Trance. „Lass ihn in Ruhe!" Brülle ich. Am Rande nehme ich wahr, dass die Musik abrupt verstummt ist. Ein dumpfes beharrliches Pochen dröhnt mir in den Ohren. Zögernd setze ich mich in Bewegung. Die Szene an der strandbar erweist sich als Publikumsmagnet. Schaulustige haben einen Kreis um die Kämpfenden gebildet. Jayden verabscheut Gewalt so sehr, dass es viel braucht, um ihn dazu zu bringen, sich zu wehren. „Jayden!" Keuche ich. Sand wirbelt auf. Der Junge neben Jayden taumelt zu Boden. Paul holt zu einem Tritt aus.„ Elende Schwuchtel!" bellt Theo und spuckt auf den Jungen, der sich vor Schmerzen windet. Verächtliches Gemurmel brandet auf. Niemand unternimmt etwas. Ich dränge die Umstehenden zur Seite und bleibe keuchend vor den Kämpfenden stehen. Jayden hat Theo zu Boden gerungen, um ihn in den Schwitzkasten zu nehmen. „Lass mich los," presst dieser hervor. Speichelfetzen fliegen durch die Luft. „Erst wenn du dich entschuldigst," zischt Jayden.

„Du hast gehört, was er gesagt hat." Ich wirbele herum. Ein erstauntes Raunen gleitet durch den Kreis der Umstehenden. „Und ihr," fordert die Stimme, schwer vor Verachtung, „schert euch weg."

„Hey, Niklas. Krieg ich nen' Autogramm? Hab gehört, ihr habt schon nen Plattenvertrag in der Tasche." Niklas ignoriert den Mann, der ihn mit großen Augen anglotzt und kommt auf mich zu.

Ich öffne die Lippen, um ihm zu schildern, was passiert ist, aber er berührt nur sanft meinen Arm. Mir klappt der Mund zu. Niklas stellt sich neben Jayden und wiederholt dessen Worte. Dann beugt er sich herab und nimmt Theos Hand, die seitlich aus dem Schwitzkasten herausragt. Ich sehe, dass er etwas mit dem Zeigefinger macht. Entsetzt stelle ich fest, dass er ihn bis zum Anschlag nach hinten biegt. Theos Schrei lässt die Luft erzittern. Doch Niklas' Handeln zeigt Wirkung. Mit hassverzerrter Miene presst Theo eine Entschuldigung hervor. Paul ist inzwischen verschwunden. Wow, was für eine Freundschaft, schießt es mir durch den Kopf.

„Und jetzt verschwinde von hier!" Trotz der Situation entgeht mir nicht, wie gewählt Niklas sich ausdrückt. Es ist fast, als käme er aus einer anderen Zeit. Oder aus einer anderen Welt.

„Das zahle ich euch heim!" Theos Blick schießt zwischen Niklas und mir hin und her. Zögernd dreht er sich um und hechtet über den Zaun. Mit gesenktem Kopf stürmt er davon. Zurück ins Viertel. Den Ort, wo nicht nur er lebt, sondern auch Jayden und ich. Aber Niklas hat keine Ahnung, wo ich wohne. Zum Glück.

Jayden hilft dem Jungen auf die Beine. An der Art, wie sie einander ansehen und miteinander sprechen, ahne ich, das da mehr ist.

„Alles in Ordnung?" Niklas steht neben mir. Ich höre auf, mit der Schuhspitze Kreise in den Sand zu zeichnen. Ein „Ja, alles gut," liegt mir auf den Lippen. Aber der Anblick dieser Grizzlybärfellaugen, gepaart mit dem Bartschatten und dem melancholischem Zug um seine Augen, lassen mich die Worte verschlucken. Ich nicke bloß und taste nach seiner Hand. Sie ist rau und warm. Er zieht sie nicht zurück. Verblüffung tritt auf sein Gesicht. Trotzdem verschränkt er seine Finger mit meinen.

„Hast du immer noch Lust mit mir essen zu gehen?" Höre ich mich fragen. Seine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln.

„Natürlich."

„Okay." Ich nicke.

„Okay", entgegnet er. Ich horche in mich hinein. Spüre dem eifrigen Pochen des Herzens nach, dem Flattern unterhalb der Kniekehlen, wo mein Magen hängt. Doch da ist nur eine angenehme Wärme, die mich vergessen lässt, dass ich eigentlich Angst haben sollte.

Fame and DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt