30. Johannes - Kontrollverlust

861 79 20
                                    

„Männlich, weiß, mittleres Alter, Identität unbekannt. Patient nicht ansprechbar, Vitalfunktionen aber wieder stabil. Innere Blutung, Rippenfraktur rechts, wenn nicht beidseitig, offene Unterschenkelfraktur, Platzwunde an der Stirn die genäht werden muss."

Na, das war doch mal ein gelungener Start. Zügig desinfizierte ich mir die Hände und schlüpfte in meine OP Sachen. Bei diesem ankommenden Patienten war allerhand zu tun und ich wollte augenblicklich loslegen. Erfahrungsmäßig dauerte es keine fünf Minuten mehr, dann läge er bereits auf meinem Tisch. Nach und nach erschien auch mein Team und bereiteten alles für die Ankunft vor.

Andächtig strich ich über das Skalpell. Es juckte mich bereits in den Fingern. Ich wusste gar nicht mehr, wann es das letzte Mal so lange her war, dass ich mehrere Tage am Stück, nicht im OP gestanden hatte. Es war mir wirklich bereits ein bisschen abgegangen.

Diese Ruhe, die mich überfiel, sobald ein Patient in den OP geschoben wurde. Die mich alles um mich herum vergessen ließ. Da war nicht selten nur noch ich und Gevatter Tod, mit dem ich mir eine Partie Poker erlaubte.

Gerade jetzt kam es mir gelegen. Hier konnte ich die Welt da draußen vergessen. Meine Probleme und sogar André. Jetzt zählte nur noch der Mensch unter meiner Hand, meine Konzentration und mein Kampf galt allein ihm.

„Sie sind da ...", riss mich die Stimme von Dr. Ludwig, alias Dr. Nervensäge, den ich unter meinen Fittichen einlernen durfte, völlig unnötigerweise aus den Gedanken. Ich hatte das laute Stimmengewirr, so wie das Quietschen der Reifen auf dem Linoleum längst vernommen.

„Ok, schauen wir mal, was hier los ist." Dabei lockerte ich meine Handgelenke und ließ mir den Mundschutz anlegen. Währenddessen wurde hinter mir der Patient hineingerollt.

„Dann sehen wir uns das Ganze erst ...", weiter kam ich nicht. Mir stockte der Atem, die Zeit schien still zu stehen und mein Herz auch. Das hier konnte nicht wirklich sein. Zur Salzsäure erstarrt, stand ich einfach nur da und blickte auf den Mann vor mir.

„Dr. Burg ...", ich zuckte zusammen, stolperte einen Schritt nach vorne, um wirklich sicherzugehen. Um jede andere Möglichkeit auszuschließen. Obwohl ich längst wusste, wer da vor mir lag.

„Dr. Burg, was ist los?" Gleichzeitig schüttelte mein liebreizender Kollege an meiner Schulter und an meiner nicht vorhandenen Geduld. Was zur Hölle war hier los? Meine Gedanken überschlugen sich, ich konnte gar nicht richtig begreifen, was ich hier sah. Was das hier für mich bedeutete. Das war ein Traum. Ein ganz, ganz schlechter Traum und jeden Augenblick würde ich aufwachen.

„Alles ok? Wir müssen anfangen ...", versuchte er hartnäckig meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber ich konnte nicht. Konnte er mich nicht einfach nur in Ruhe lassen? Ich sah nur noch ihn. Blutgetränkte, blonde Strähnen, die ihm in die dunkel untermalten, geschlossenen Augen fielen. Der provisorische Druckverband über seinem linken Auge. Die Lippen aufgerissen, blutend. Zerbrechlich und schwach, aber immer noch wunderschön ... Ich schluckte hart. Mein Engel ... so zerbrechlich ...

„Johannes ...", schneidend durchbrach er erneut meine Gedanken. Herrgott, sah er denn nicht, dass ich anderweitig beschäftigt war? Ich war gerade dabei meinen Arm auszustrecken. Ich musste ihn einfach berühren, musste wissen, ob das hier wirklich er war. Ob das hier wirklich André war.

„Was ist los mit dir?", ließ Dr. Ludwig nicht locker und ich wünschte ihn nicht das erste Mal zum Teufel.

„Das ist mein Freund ...", hauchte ich mehr zu mir selbst, als zu ihm. Während meine Fingerspitzen endlich Andrés kalte Wangen berührten und dabei eine seiner langen Strähnen zur Seite wischten. Das Blut, welches noch nicht getrocknet war, hinterließ einen roten Strich. Als hätte jemand seinen Pinsel in blutrote Farbe getaucht und vollführte wunderschöne Bilder auf blasser Haut.

„Scheiße!", drang es wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Das Alles hier konnte doch gar nicht wirklich sein. Es fühlte sich auch gar nicht danach an. Ein bisschen so, als wäre ich in Watte gepackt. Ganz, ganz fest. Nichts konnte sich mehr rühren. Keine Gedanken, keine Emotionen, kein Herzschlag.

„Dann raus hier!" Erschrocken über den scheidenden Ton, zuckte ich zusammen.

„Was?" Schlagartig lief die Zeit wieder los und riss mich aus meiner Lethargie. Sämtliche Sinneseindrücke krachten gleichzeitig auf mich ein. Das unerträglich laute Piepen der Maschinen, der Gestank nach Desinfektionsmittel, der Anästhesist der bereits die Narkose einleitete und ganz zum Schluss die Bedeutung seiner Worte.

„Johannes, geh jetzt und lass mich meine Arbeit machen." Fassungslos konnte ich Michael nur anstarren. Seine Worte drangen durch, auch bis zu meinem Verstand, nur konnte ich trotzdem nicht fassen, was er hier von mir verlangte. Was bildete sich dieses Arschloch ein.

„Das ist mein Freund ...", wiederholte ich bestimmt.

„Ganz genau!" Besaß er die Frechheit, mir ins Wort zu fallen, während er bereits routiniert das Ultraschallgerät anlegte. „Und deswegen gehst du jetzt."

„Nein ..." Das konnte doch nicht sein. Das war mein André, der hier lag, dem würde ich doch nicht einfach irgendeinem dahergelaufenen Möchtegern überlassen. Das wollte ich ihm auch gerade ins Gesicht pfeffern, da packte er mich hart am Oberarm und bugsierte mich zur Tür. Für das er aussah wie ein Milchbubi, hatte er verdammt viel Kraft.

„Blässe, Atemnot, rasender Puls, zitternde Hände und Kaltschweiß sind Anzeichen für?", zählte er mit ruhiger Stimme auf und schob mich dabei weiter durch die Tür.

„Was?" Mit der Situation völlig überfordert konnte ich ihn nur noch irritiert anblinzeln.

„Das sind Symptome für was?", wiederholte er bestimmt seine Frage.

„Schock ...", resultierte ich automatisch, obwohl sich mein Hirn gerade überschlug.
„Richtig! Du stehst unter Schock!" Dabei bohrte er mir seinen Zeigefinger in die Brust. „Außerdem ist das da drin dein Freund. Du kannst nicht rein und ihn behandeln."

„Aber ...", versuchte ich mich aufzulehnen, auch wenn mir durchaus bewusst war, dass er mit seiner Aussage völlig recht hatte.

„Du zitterst ...", sagte er sanft. Griff an meine Hand und führte sie zum Beweis in mein Sichtfeld. „Und jetzt lass mich da rein gehen und endlich meinen Job tun."

Ohne meine Erwiderung abzuwarten, drehte er sich um und verschwand in der Tür. Fassungslos starrte ich auf meine zitternden Hände. Und fühlte mich machtlos. Nutzlos traf es eigentlich noch besser. Mein eigener Freund lag hier,, hinter dieser beschissenen silbernen Tür und ich konnte ihm nicht helfen.

„Scheiße!", brüllte ich verzweifelt. Eine unsagbare Wut überfiel mich, dabei trat ich gegen den Mülleimer neben mir und riss mir gleichzeitig den Mundschutz vom Gesicht. Jetzt war ich schon Arzt und konnte trotzdem das, was ich liebte, nicht retten.

Haare raufend verließ ich den Gang. Sie würden mich nicht wieder in den OP lassen und aus Erfahrung wusste ich, dass es sich hierbei um Stunden handeln würde, in denen sie André wieder zusammen flickten. Beim Aufzug angekommen, drückte ich den Knopf und wartete ungeduldig auf das sich Öffnen der Türen. Ich musste raus. Hier würde ich ersticken. Kurz machte ich einen Zwischenstopp in der Garderobe und holte kurzerhand Jacke und Handy.

Wenige Augenblicke später stand ich endlich auf dem Dach. Sog immer noch zitternd die Luft in meine Lungen und trat ans Geländer. Dunkelheit lag über der Stadt. Große Flocken fielen vom Himmeln und tauchten alles in ein weißes Meer. In den Fenstern der Häuser unter mir brannte Licht. Und ich stellte mir vor, wie die Menschen darin die Weihnachtsfeiertage ausklingen ließen. Das hätten wir genau so machen müssen. Aber nein, ich hatte mir eingebildet, ich tat ihm etwas Gutes, in dem ich ihn ausgerechnet, seinem Vater vorstellte.

Ganz in Gedanken fischte ich nach meinem Handy in der Jackentasche und wählte automatisch.

„Donna ..." Ein Schluchzen entkam mir, dabei ging ich automatisch in die Hocke und setzte mich auf den Schnee bedeckten Boden.

„Ich liebe ihn ...", flüsterte ich tonlos in den Hörer, während sich die ersten Tränen ihren Weg über meine Wange bahnten. „Und ich habe Angst ..."

Mr. Unnahbar (Mr. 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt