9. Kapitel - Freigang

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Ich machte mich gegen 14 Uhr auf den Weg zu meinem Großvater. Ich hatte mir ein Fahrrad von Linn geliehen und fuhr damit den holprigen Waldweg entlang. Bis 18 Uhr hatte ich Zeit, dann musste ich spätestens wieder zurück sein. Unter der Woche war der Ausgang nur bis 18 Uhr. Am Wochenende bis 23 Uhr. Es fühlte sich seltsam an so frei durch den Wald zu fahren. Ohne das grelle Gebäude und die Leute des Weißen Ordens zu sehen. Es war gar absurd, dass ich nun einfach das Gelände verlassen konnte, während sie mich vor drei Tagen mit Fesseln und Gewalt an diesen Ort gebracht hatten. Mein Freigang war sogar nur durch ein kurzes Gespräch mit einem der Wächter gestattet worden.

Bis zu meinem Großvater brauchte ich mit dem Fahrrad etwa eine halbe Stunde. Der Waldweg war matschig und ich war einige Male beinahe ausgerutscht. Letztendlich war ich jedoch heil bei seinem Grundstück angekommen. Ich blieb einen Augenblick vor seinem Gartentor stehen und verschnaufte. Ich war zügig gefahren und merkte erst jetzt, wie anstrengend das für meinen untrainierten Körper war. Nichtsahnend öffnete ich das Tor und wurde schon im nächsten Moment von schmerzhaften Erinnerungen, an die vergangenen Momente mit Jayden, überrumpelt. Bilder tauchten auf, wie er mich an einem Abend wieder und wieder nach Hause gebracht hatte. Ich erinnerte mich daran, wie er mir Komplimente gemacht hatte, jedes Mal wenn wir uns hier getroffen hatten. Und ich musste an unseren ersten Kuss denken. Das war wohl das Schmerzhafteste daran. Ich wusste noch genau wie euphorisch und einfach nur glücklich ich mich gefühlt hatte. Jetzt schien dieses Gefühl so weit entfernt zu sein. So unerreichbar und trotzdem konnte ich nicht aufhören daran zu denken. Das war furchtbar. Wann hörte das nur endlich auf? Warum erinnerte mich einfach alles an ihn? Es war doch nur ein heruntergekommenes Gartentor. Mehr nicht. Warum trieb mir schon so eine einfache Sache Tränen in die Augen?

Wahrscheinlich brauchte so etwas einfach seine Zeit. Vielleicht sollte ich nicht so hart zu mir selbst sein. Es war der dritte Tag. Eigentlich sollte ich froh sein, dass ich es um 12 aus dem Bett geschafft und mich sogar dazu überwunden hatte, ein halbes Brötchen mit Marmelade zu essen. Dass das eindeutig zu wenig gewesen war, merkte ich spätestens jetzt. Meine Glieder waren schwer wie Blei. Ich fühlte mich schlapp und mein Herz raste schneller, als es bei dieser Art von Anstrengung für gewöhnlich tat.

Ich blinzelte die Tränen weg und versuchte mich auf das zu konzentrieren, wegen dem ich hier war. Das Buch meiner Grandma. Zuletzt hatte ich es in der Ecke meines Bettes versteckt, unter einem Haufen von Kissen. Wenn die Leute, die meine Sache zum Weißen Orden gebracht hatten, viel Zeit gehabt hatten, hatten sie es wahrscheinlich gefunden. Wenn nicht, hatte ich vielleicht Glück und es war noch da. So oder so, wenigstens stellte es keine Gefahr dar, falls es jemand von Janines Leuten in die Finger kriegen sollte. Es würde sich ihm sowieso nicht offenbaren.

Je näher ich dem Bungalow kam, desto mehr spürte ich das Gefühl der Vertrautheit. Und das, obwohl ich seit meines Verschwindens aus New York, nicht lange hier gewesen war. Die Tür zur Terrasse war angelehnt. Ich trat ein und hielt nur flüchtig Ausschau nach meinem Großvater. Die unruhige Neugier in mir war viel zu stark, sodass ich direkt auf das Zimmer zusteuerte, in dem ich geschlafen hatte. Als ich den Raum betrat, spürte ich ein seltsames Gefühl, das ich zunächst nicht richtig einzuordnen wusste. Es war keine Vertrautheit. Es war ein unruhiges Gefühl. Eins, das mich glauben ließ, dass ich schnell wieder von hier verschwinden sollte.

Aber warum sollte ich weg von hier? Ich durfte hier sein, die Leute die mich gesucht hatten, hatten mich. Niemand war mehr hinter mir her. Warum sollte ich also nicht hier sein? Oder warum hatte ich das Gefühl lieber abhauen zu müssen? Ich dachte einen sehr langen Moment nach, in dem ich mich nicht zu bewegen wagte. Bis ich verstand, woher dieses erdrückende Gefühl kam. Es musste aus der Erinnerung stammen, in der ich realisiert hatte, auf welche seltsame Art und Weise ich das Buch gefunden hatte. Wie sehr ich mich meinem Bauchgefühl widersetzt hatte und wie sehr es mich beim genaueren Nachdenken geängstigt hatte. Genau daher kam dieses Gefühl. Kein Grund zur Sorge also.

Zufälle gibt es nicht! (2. Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt