1 | Alte Lügen

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David

Ich hatte geglaubt, ich könnte mein altes Leben weiterleben.

Ich hatte geglaubt, ich könnte die Reise mit Julian hinter mir lassen und in meine Stadt, zu meiner Familie, zu Anna zurückkehren, als wäre nichts geschehen.

So schlimm war es schließlich nicht, oder? Ich war privilegiert, in einer Wohlstandsfamilie aufgewachsen zu sein. Mir stand eine rosige Zukunft bevor, ich würde nach Abschluss meines Studiums gutes Geld verdienen und ich hatte eine wundervolle Freundin an meiner Seite, mit der ich ein Haus bauen und eine Familie gründen würde. Es stand mir nicht zu, unglücklich zu sein. Ich hatte alles.

Außer ihn.

November

Den halben Vormittag saß ich bereits in meinem Bett, obwohl ich mir das gar nicht leisten konnte. Es war Samstag, der erste freie Tag der Woche und ich sollte ihn nutzen, um meine restlichen Übungsaufgaben für das Seminar am Montag zu erledigen. Müde fuhr ich mir über das Gesicht, ehe ich nach meinem Handy griff, schon wieder, und durch meinen Instagram-Account scrollte, schon wieder. Je länger ich darüber nachdachte, dass ich aufstehen musste, desto schwieriger wurde es. Nach Instagram öffnete ich WhatsApp und scrollte durch meine Chatverläufe, bis ich fast ganz unten angekommen war. Julian.

Mi. 21. Aug.
Hey David. Ich weiß, du hast gesagt ich soll nur schreiben, wenn ich meine Meinung ändere. Aber ich konnte dein Angebot nicht annehmen. Ich hab mir das Geld von Fabio geholt. Trotzdem dachte ich, dass du vielleicht meine Nummer auch haben willst... also falls du deine Meinung änderst. Tut mir leid, dass ichs verbockt hab. Ich vermisse dich.

Mo. 14. Okt.
Ich vermisse dich auch...

Er hatte mir nicht geantwortet. Es war fast einen Monat her und er hatte mir nicht geantwortet.

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, wahrscheinlich hatte er in der Zwischenzeit mit mir abgeschlossen. Verübeln konnte ich ihm das nicht; ich wünschte nur, ich hätte das auch geschafft. Ihn zu vergessen. Ihn und all das, was zwischen uns passiert war. Stattdessen starrte ich beinahe jeden Tag auf die einzigen zwei Nachrichten in unserem Chatverlauf, während ich ständig daran dachte, was hätte sein können, wenn unsere Reise im Sommer anders geendet wäre.

Immer wieder erwischte ich mich bei dem Gedanken, ihm noch einmal zu schreiben, ihn vielleicht gar anzurufen, um herauszufinden, ob es nicht doch noch eine Chance gab. Ob wir unseren Streit begraben und neu anfangen konnten. Am besten weit weg, fern von unseren Familien, unseren Freunden, allem.

Ich zuckte zusammen, als der Klingelton meines Handys ertönte und ein eingehender Anruf auf dem Bildschirm aufleuchtete – Anna. Wie erstarrt blickte ich auf ihr Bild und ihren Namen. Ich hatte das Gefühl, dass sie meine Gedanken hören würde, würde ich nun abnehmen. Sie würde wissen, was ich getan hatte. An wen ich gedacht hatte.

Ich starrte auf mein Handy, bis es verstummte.

Danach schloss ich die Augen und atmete tief durch, einmal, zweimal, bevor ich das Handy in die Hand nahm und sie zurückrief. Ihre Stimme ertönte so schnell, als hätte sie ihr Handy noch nicht beiseitegelegt.

»Hey, David! Hab ich dich gestört?«

Ich schluckte. »Nein, nein. Ich hatte nur mein Handy verlegt und bis ich es gefunden habe, hast du schon aufgelegt.«

Ein Kichern drang durch mein Handy. »Bist du gerade mit Uni beschäftigt?«

Ich sah zu meinem Schreibtisch, auf dem noch die Bücher und Übungsaufgaben verteilt waren, die ich gestern Abend angefangen hatte.

Zwischen den Welten - Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt