17 | Neues Jahr

15 6 37
                                    

Julian

»Nadia!«

Ich beschleunigte meine Schritte, als ich sie in der Ferne vor dem Eingang des Düsseldorfer Flughafens sah. Bei ihr angekommen, schloss ich meine Arme fest um sie. Sie ließ ihre Reisetasche fallen und erwiderte die Umarmung. In diesem Moment fühlte ich mich so glücklich wie die ganzen letzten Monate nicht mehr. Wie hatte ich nur zwei Monate überleben können ohne meine kleine Schwester an meiner Seite?

Ich löste mich von ihr, aber hielt ihr Gesicht in meinen Händen und musterte sie, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Sie strahlte, ihre dunklen Augen leuchteten und es durchflutete mich mit Wärme, sie bei mir zu haben. Mir fielen aber auch die hauchdünnen Ringe unter ihren Augen auf, die sie zu überschminken versucht hatte. Entweder hatte der Flug seinen Tribut gezollt oder – ich presste meinen Kiefer aufeinander – es lief zuhause nicht gut.

»Wie geht es León? Und Mamá?«, fragte ich vorsichtig.

Beinahe hätte ich auch nach Papá gefragt, aber es interessierte mich nicht. Oder vielleicht... wollte ich nur nicht, dass es mich interessierte.

»Sie vermissen dich, aber sie kommen klar.« Sie sprach Spanisch, aber das tat sie häufig, wenn ich Deutsch mit ihr redete.

Mittlerweile schloss Lena zu uns auf, stellte sich zu uns und lächelte. »Hola, me llamo Lena.«

»Nadia«, antwortete meine Schwester und deutete mit einer Hand auf ihre Wangen, »darf ich?«

Lena nickte; und da gab Nadia ihr zögerlich je ein Küsschen auf beide Wangen.

»Danke, dass ich hier sein darf«, sagte sie anschließend mit einem deutlichen spanischen Akzent. Den hatte sie immer, wenn sie vom Spanischen ins Deutsche wechselte. Sobald sie einige Sätze auf Deutsch sprach, legte sich ihr Akzent.

Es war bereits später Nachmittag, als Lena uns mit dem Auto zurück nach Dortmund fuhr – mit Davids Auto, da sie kein eigenes hatte. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr es mich an ihn erinnerte, aber vermutlich bemerkte Lena es dennoch. Sie war erstaunlich gut darin, mich zu lesen, besser als David es gewesen war. Nun brach das Seufzen doch aus mir heraus.

»Was ist los?«, fragte Nadia, die auf dem Rücksitz saß. Ich drehte mich zu ihr um und winkte ab. »Nichts. Mir geht's gut.«

Lena warf mir einen kurzen, skeptischen Blick zu, und auch Nadia wirkte alles andere als überzeugt.

»Ist es wegen David?«, fragte meine Schwester.

Ich presste die Lippen aufeinander. Nadia etwas vorzumachen war nicht besonders einfach. Sie wusste, wie es mir ging, zu jeder Zeit. Meistens tat sie mir den Gefallen nicht nachzuhaken oder so zu tun, als würde sie mir glauben, wenn ich versicherte, dass alles in Ordnung sei. Aber nachdem wir uns zwei Monate nicht gesehen hatten, konnte ich ihr nicht verübeln, dass sie keine Lügen von mir hören wollte.

»Na ja, es ist gerade seltsam zwischen uns«, gab ich ehrlich zu. Im Augenwinkel sah ich, wie sich Lenas Brust hob und wieder senkte, als würde sie tief einatmen. Wir hatten vermieden, über David zu sprechen, denn er hatte die kompletten Weihnachtsfeiertage mit Anna verbracht und ich wollte nicht wissen, was es mit ihm gemacht hatte. Ich wollte nicht hören, was für ein perfektes Paar die beiden abgegeben hatten. Seit Heiligabend hatten wir keinen Kontakt mehr gehabt, in drei Tagen war Silvester und ich fragte mich, ob er mir dann schreiben würde.

»Er wird sich wieder besinnen«, sagte Lena.

»Ach ja? Dann sag mir doch mal, wie war er an Weihnachten drauf?«

Ich wusste nicht, warum sich Wut in mir breitmachte, aber als ich meine harschen Worte hörte, versuchte ich die Emotionen runterzuschlucken. Doch das machte es schlimmer.

Zwischen den Welten - Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt