35 | Neuer Weg

11 4 26
                                    

David

Ich besuchte Julian jeden Tag im Krankenhaus. Nachdem er auf die normale Station verlegt worden war, verbrachte ich beinahe den halben Tag bei ihm und nach über einer Woche teilte uns das medizinische Personal endlich mit, dass sie ihn entlassen würden.

Auch Nadia war wieder zurück nach Madrid geflogen, weil sie sich nicht unbegrenzt freinehmen konnte. Obwohl bei Lena damit wieder mehr Platz in der Wohnung war, blieb ich weiterhin bei Lars und Lorena. Julian hatte darauf bestanden. Er meinte, wenn er auch wieder nach Hause käme, wäre das fast wie Zusammenwohnen und ich musste immer wieder lächeln, wenn ich an seine Worte dachte. Was mit Anna noch ein beängstigender Gedanke gewesen war, erschien mir mit Julian aufregend. Außerdem hatte ich das Gefühl, jede freie Minute mit ihm nutzen zu müssen, wenn er tatsächlich eine stationäre Therapie machen würde, wie er es mit seinem Therapeuten abgesprochen hatte. Zwar würde es aufgrund der Wartezeiten noch Wochen oder Monate dauern, bis er einen Platz erhalten würde, aber bis dahin wollte ich die Zeit mit ihm auskosten.

Auf eine seltsame Art fühlte ich mich erleichtert, seit ich meiner Familie die Wahrheit gesagt hatte. Aber ich hatte noch immer keinen Fuß in die Uni gesetzt, war nicht auf Arbeit erschienen und hatte auch nichts für meinen Hiwi-Job gemacht. Ein paar Mal hatte ich es versucht, aber jedes Mal hatte es beinahe in einer Panikattacke geendet, als hätte mein Kopf eine Art Abwehrbarriere gegenüber meiner Arbeit aufgebaut. Julian hatte mir bereits vorgeschlagen, ich solle auch eine Therapie machen und je größer der Druck in mir würde, desto mehr dachte ich ernsthaft darüber nach. Mir konnte egal sein, was meine Familie davon hielt, sie war ohnehin schon enttäuscht von mir.

Familie war auch der Grund, warum ich an diesem Morgen bei Lena in der Küche saß. Bevor wir Julian heute aus dem Krankenhaus abholen würden, wollte mein Vater mit mir sprechen. Ich wusste nicht, was er mir zu sagen hatte. Vielleicht wollte er mir irgendwelche Nachrichten von meiner Mutter überbringen, die jede meiner Nachrichten ignorierte, seit sie mich rausgeworfen hatte. Auch Anna ließ aktuell keinen Kontakt zu, egal wie oft ich versuchte, mich bei ihr zu entschuldigen. Dafür hatten bereits ihre Eltern bei mir angerufen, um mich zu fragen, wie ich ihr das hatte antun können und warum ich sie ausgerechnet im letzten Drittel ihrer Schwangerschaft im Stich ließe. Natürlich hatte ich darauf keine Antwort gewusst. Ich hatte ihnen nur versichert, dass ich für Anna und das Kind da sein würde, aber mittlerweile wusste ich nicht einmal mehr, ob Anna das überhaupt wollte.

»Hast du schon was von Julian gehört?«, fragte Lena.

Perplex sah ich zu ihr auf und fragte mich, wann sie in die Küche gekommen war. »Nein.«

»Die lassen sich ganz schön Zeit mit dem Entlassungsbrief«, sagte sie und nahm sich eine Flasche Apfelsaft aus dem Kühlschrank.

»Mhm«, machte ich, »vielleicht ist viel los.«

Bevor Lena etwas erwidern konnte, ertönte die Klingel und ich zuckte zusammen, weil ich wusste, dass es unser Vater war. Ich war nicht bereit für dieses Gespräch, was auch immer er zu sagen hatte. Lena ging aus der Küche, um ihm die Tür zu öffnen und keine zwei Minuten später stand er im Türrahmen und musterte mich. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu entziffern. Unser Vater war ein Meister darin, seine Emotionen zu verbergen.

»Hallo David«, sagte er.

Ich schluckte. »Hallo.«

Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch. Ich verschloss meine Finger in meinem Schoß, während sich die Anspannung in meinem gesamten Körper ausbreitete.

»Du weißt, warum ich hier bin, also werde ich nicht um den heißen Brei reden«, sagte er und legte seine Unterarme auf dem Tisch ab. Intuitiv ließ ich mich in Stuhllehne sinken, um einige Zentimeter Abstand zu gewinnen.

Zwischen den Welten - Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt